Queerfeindlichkeit in Deutschland Zu schwul für Berlin? Unser Autor spazierte zwei Tage Hand in Hand mit einem Mann durch die Hauptstadt

Stephan Seiler und Simon Händchenhaltend auf dem Alexanderplatz
Autor Stephan Seiler (l.) hat einige Berliner Freunde gefragt, ob sie mitmachen würden bei dem Experiment. Er bekam nur Absagen. Ja sagte am Ende Simon aus Las Vegas, der gerade in Deutschland zu Besuch war
© Adrián Alarcón Sánchez
Wenn am Wochenende die queere Community durch die Hauptstadt zieht, wirkt Deutschland weltoffen und liberal. Aber sind wir wirklich so tolerant? Um das herauszufinden, spazierte stern-Reporter Stephan Seiler zwei Tage lang Hand in Hand mit einem Mann durch Berlin.

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Hat der uns angerempelt? Stoß im Rücken, linke Seite, wahrscheinlich Ellbogen. Ich sehe einen Jungen, lockige Haare, er stürmt an uns vorbei, dreht sich um, zeigt ein Grinsen, das wir so oder so deuten können. 16 ist er vielleicht, schmächtig, wirkt nicht wie einer, der Leute wie uns verprügelt.

Wir, das sind Simon und ich. Simon ist ein Freund von mir, 35 Jahre alt und genauso schwul wie ich. Wir sind in den Nordwesten der Hauptstadt gefahren, ins Märkische Viertel nach Reinickendorf, zum Startpunkt unseres Experiments. Die Sonne hämmert aufs Hochhausgrau. "Ausgerechnet in dem Stadtteil wollt ihr mit eurem schwulen Händchenhalt-Dingsbums anfangen?", hat mich mein Kumpel Toni am Tag zuvor gefragt und gewarnt: "Da bekommt ihr ja gleich aufs Maul." Das wisse selbst er als "hundertprozentige Hete". Wollte ich nicht glauben. Landet Berlin nicht immer ganz weit vorn, wenn irgendwo im Netz "gayfriendly cities" aufgelistet werden?

Erschienen in stern 30/2023