Der Zweite Weltkrieg kennt viele Wendepunkte. Genau genommen hatte Deutschland den Krieg im Winter 1941 verloren, als die deutsche Offensive vor Moskau liegen blieb. Sichtbar wurde die Niederlage aber erst ein Jahr später, als die deutsche 6. Armee bei Stalingrad zunächst eingeschlossen und dann vernichtet wurde. Lange Zeit wurden drei Personen für die Katastrophe verantwortlich gemacht: der größenwahnsinnige Diktator Adolf Hitler, der unfähige Hermann Göring als Oberkommandierender der Luftwaffen und General Friedrich Paulus, Oberbefehlshaber über die 6. Armee.
Nur nicht die Generäle
Die Erklärungen der Nachkriegszeit kann man so zusammenfassen: Alle waren schuld, nur nicht die deutsche Generalität. Die Richtung gab der bedeutendste deutsche Stratege, Erich von Manstein, mit dem Titel seiner Memoiren vor: "Verlorene Siege". Seine irrige Botschaft: Die deutsche Wehrmacht hätte den Krieg gewonnen, wenn nur nicht der unfähige Hitler, Generälen wie ihm, Manstein, ins Handwerk gepfuscht hätte.
Damit lenkten die Generäle kollektiv vom eigenen Versagen ab, denn in den Jahren der schnellen Siege ließen sie sich sehr wohl vom Gefühl der eigenen Unbesiegbarkeit anstecken. Verantwortlichkeit für die Verbrechen der deutschen Seite in diesem Krieg und ihre Verstrickung darin sucht man vergebens.
Krieg der wirtschaftlichen Not
Ohne Frage trägt der Diktator nicht nur die Verantwortung für den Angriffskrieg, sondern auch für Fehlentscheidungen wie einen Zwei-Frontenkrieg gegen die UdSSR zu beginnen, obgleich es nicht gelungen war, Großbritannien im Westen zu besiegen. Auch die Offensive, die die Deutschen 1942 in die Stadt an der Wolga führte, war von Hybris getragen. Im Winter 1941 wurden sie vor Moskau zurückgeworfen. Nur konnten die Sowjets ihren Vorteil nicht in eine entscheidende Offensive umsetzten. Den Deutschen gelang es, die Front zu stabilisieren. 1942 versuchten sie nicht mehr, das Machtzentrum Moskau auszuschalten, ihre Truppen sollten den Kaukasus erreichen und dort wichtige Erdölfelder einnehmen. Überlegungen der wirtschaftlichen Not ersetzen die strategische Zielsetzung. Auf den Weg dorthin wurden die Kräfte gespalten, die Deutschen wollten zudem die Stadt Stalingrad einnehmen.
Sicherlich hat der symbolische Name auch eine Rolle gespielt, aber auch ohne den Namen des Kontrahenten war die Lage der Stadt an der Wolga entscheidend. Hier durchschnitt man die Lebensader des Flusses. Die Stadt war beherrschend, weil sie in der Steppe lag. Die Überlegung lautete: Wer Stalingrad einnahm, besaß eine Festung, während der Gegner seine Stellungen in einer Ödnis aufbauen musste.
Widerstand der Roten Armee
Die Stadt erreichte die 6. Armee noch relativ problemlos, auch wenn der verzweifelte Widerstand der Sowjets zu Verzögerungen führte. Doch im inneren Stadtgebiet kamen die Deutschen kaum voran. Die Zeiten, in denen Städte wie Minsk, Kiew oder Charkow schnell erobert werden konnten, waren vorüber. Die Rotarmisten kämpften zäh Haus um Haus. Eigentlich hätten die deutschen Generäle damit rechnen müssen, denn schon vor Moskau hatte sich der Widerstand verfestigt. Sieben Monate hatte die Wehrmacht zuvor benötigt, um Sewastopol auf der Krim einzunehmen.

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Ein Abschneiden der Stadt wäre in Stalingrad wegen fehlender Flussübergänge schwierig gewesen, wurde aber auch gar nicht ernsthaft erwogen. So entwickelte sich die Stadt zu einer Blutmühle, wie man sie aus dem Ersten Weltkrieg kannte. Doch im Rattenkrieg Haus um Haus waren die Deutschen nicht besser aufgestellt als die Russen. Sie meisterten zwar das schnelle Bewegungsgefecht, doch das nützte im Hauen und Stechen auf engsten Raum wenig.
Einladung zur Einkesselung
Als sich der Winter über die Steppe legte, war die Stadt immer noch nicht eingenommen. Der Oberkommandierende der 6. Armee General Paulus konzentrierte seine "wertvollen" – sprich deutschen - Verbände in den Trümmern der Stadt, nahe der lebenswichtigen Eisenbahnlinie. Dort sollten sie unter einigermaßen erträglichen Bedingungen überwintern. Die Flanken in der rauen Ödnis der Steppe sollten dagegen die Truppen der rumänischen und italienischen Verbündeten sichern. Sie verfügten kaum über Panzer und zudem waren auch noch weit auseinander gezogen.

Die Verteilung der deutschen Kräfte lud geradezu zu einem Zangenangriff auf die Stadt ein. Die Idee lag auf der Hand, dennoch sahen die deutschen Generäle die Gefahr nicht. Schon im Winter 1941 hatte die sowjetische Offensive nicht nur Hitler, sondern auch seine Generäle überrascht. Nach den Verlusten des ersten Kriegsjahres konnten sie nicht glauben, dass Stalin noch einmal solchen Truppen und so viel schweres Gerät zusammenbringen würde. Ein Jahr später wiegte man sich im gleichen Irrglauben.
Hitlers Generalstabschef Franz Halder nahm an, die Sowjets seien "zu sehr geschwächt, um uns etwa so wie im letzten Winter gefährlich werden zu können." Für die Operation Uranos zog die Stawka in drei Fronten fast 1000 Panzer, 15.000 Geschütze und über 1,2 Millionen Soldaten zusammen. Obwohl das im deckungslosen Gelände stattfand, wurde die Massierung von der deutschen Abwehr nicht bemerkt.
Flanken wie ein Kartenhaus
Der russische Angriff am 19. November 1942 traf die deutschen Verbündeten vollkommen unvorbereitet. Die sowjetischen Truppen hatten keine Schwierigkeiten, die dünnen Linien zu durchstoßen. Und das, obwohl teilweise wegen des dichten Schneetreibens auf Bombenangriffe verzichtet werden musste. Stalin hatte zuvor notierte: "Wenn das Bombardement unzureichend ist, wird die Operation scheitern." Die Bombenangriffe wurden gestrichen, aber nicht der Schlag der Artillerie. Für ihn waren allein 1250 Katjuscha-Raketenwerfer zusammengezogen worden.
Seine T-34 schnitten durch die italienischen Verteidigungsstellungen wie ein warmes Messer durch die Butter. Nach dem Durchbruch lag freies Land vor den Sowjets, hinter den dünnen Linien kam nichts. In vollkommener Verkennung der Kräfteverhältnisse wurden den T-34 das 48. Panzerkorps auf freiem Feld entgegengeworfen.
Nach einem Tag war das Korps praktisch aufgerieben. Zu der Überraschung kam auch noch Pech, die Deutschen büßten viele Panzer ein, weil sich Mäuse in ihnen eingenistet und die Stromleitungen durchgeknabbert hatten.
Die Reihe der katastrophalen Irrtümer setzte sich fort. Die Stawka setzten die Angriffe an beiden Flügeln zeitversetzt an. Klug, aber auch ein Trick aus dem Lehrbuch. Das führte dazu, dass die Deutschen zunächst ahnungslos waren, was die Sowjets mit ihrem Angriff bezweckten. Richtung, Stärke und Geschwindigkeit der durchgebrochenen Kräfte wurde von den deutschen Generälen komplett falsch eingeschätzt. Den russischen "Untermenschen" traute man so eine gewaltige Operation wie Uranus schlicht nicht zu.
In der Dämmerung des 22. November erreichten fünf Panzer und zwei motorisierte Infanteriekompanien die Don-Brücke bei Kalatsch. Die deutschen Wächter rechneten nicht mit sowjetischen Panzern, die Sowjets nahmen die strategisch entscheidende Brücke unbeschädigt ein, eine Sprengung der Brücke unterblieb. Nach nur vier Tagen trafen sich die Zangen bei der Stadt Sowjetski.
Einzige Hoffnung schneller Ausbruch
Die 6. Armee war eingekesselt, alle Versorgungsleitungen gekappt. Vielleicht hätte jetzt ein sofortiger Ausbruch noch dazu geführt, den Ring der ebenfalls schwachen sowjetischen Kräfte zu sprengen und sich einigermaßen geordnet entlang der Eisenbahnlinie zurückzuziehen. Paulus wollte aus dem Kessel nach Westen ausbrechen. Hitler untersagte jedoch den Ausbruch: "Jetzige Wolgafront und jetzige Nordfront...unter allen Umständen halten, Luftversorgung durch Einsatz weiterer 100 Ju 52 Transportflugzeuge im Anlaufen." Und Paulus stoppte seine Kommandeure.
Man hoffte, dass sich die Lage irgendwie bereinigen würde. Das tat sie nicht, die Russen rollten die deutsche Front weit zurück. Nun war ein Ausbruch praktisch nicht mehr möglich. Die Entfernungen waren zu groß, als dass die 6. Armee sie mit ihren Vorräten an Treibstoffen hätte zurücklegen können.

Die Generäle hofften auf einen Entsatzangriff durch den größten deutschen Strategen Manstein. Im Prinzip war das nicht unrealistisch. Nur Caesar war es zuvor in der Militärgeschichte gelungen, eine Belagerung durchzuhalten und gleichzeitig ein Entsatzheer abzuwehren. Doch der deutsche Angriff kam spät und wurde mit zu schwachen Kräften vorgetragen. Nur wenige Kilometer vor Stalingrad blieb der Vorstoß des 57. Panzerkorps endgültig stehen.
Seitdem wird gestritten, ob ein Ausbruch in letzter Minute hätte gelingen können, denn den untersagte Hitler, und Paulus fügte sich erneut. Die wenigen verbliebenen Panzerbesatzungen der 6. Panzerdivision waren bereit, den letzten Durchstoß ohne jede Flankensicherung zu wagen. Doch ohne Begleitverbände wäre, selbst wenn der Durchbruch gelungen wäre, einfach eine Gruppe überlebender Panzerbesatzungen in den Kessel hineingefahren. Und die Rote Armee hätte die Durchbruchstelle hinter ihnen abgeriegelt.
Die immer noch zahlreichen Truppen der 6. Armee und der Verbündeten hätten den Ausbruch wagen können. Doch waren schon nach wenigen Kilometern die Fahrzeuge liegen geblieben. Ob die angeschlagene Truppe bei der eisigen Kälte hätte weitermarschieren können, kann bezweifelt werden. Die unvermeidliche Verfolgung durch die sowjetischen T-34 hätte zu einem Massaker geführt. Statt einen Ausbruch aus dem Kessel zu wagen, meldete Paulus an Hitler: "Der Führer kann sich darauf verlassen, dass seine Befehle von mir und den unterstellten Truppen und Führern mit eisernem Willen und Aufbietung letzter Kraft durchgeführt werden."
Die 6. Armee wäre nun so oder so untergegangen, denkbar ist es, dass bei einem Ausbruch mehr Männer überlebt hätten, als aus der Gefangenschaft gekommen sind. Unter dem Blickwinkel der Überlebenden wäre allerdings eine andere Variante aussichtsreich gewesen. Nach dem Scheitern des Entsatzversuches hätte die Armee schnell kapitulieren müssen. Diese Option wurde von Paulus und seinen Generälen nicht einmal erwogen.
Kriechen und Kämpfen bis zum Schluss
Stattdessen folgten sie dem Kalkül des Diktators. Die 6. Armee sollte möglichst lang Widerstand leisten, um so die sowjetischen Kräfte bei Stalingrad zu binden. Bei einer Kapitulation hätten diese Truppen die sowjetische Offensive verstärkt.
Noch am 29. Januar schickte Paulus ein liebdienerisches Telegramm nach Berlin, um Hitler zum Jahrestag der Machtergreifung zu gratulieren. "Zum Jahrestag Ihrer Machtergreifung grüßt die 6. Armee ihren Führer. Noch weht die Hakenkreuzfahne über Stalingrad. Unser Kampf möge den lebenden und kommenden Generationen ein Beispiel dafür sein, auch in der Hoffnungslosigkeit nie zu kapitulieren, dann wird Deutschland siegen. Heil, mein Führer.“
Erst als Hitler Paulus durch die Ernennung zum Feldmarschall zu verstehen gab, er möge sich umbringen, um nicht in Gefangenschaft zu geraten, erwachte der Widerstandsgeist in Paulus. Als sowjetische Einheiten seinem Hauptquartier der 6. Armee nahe kamen, setzte er einen letzten Funkspruch ab: "Die 6. Armee hat getreu ihrem Fahneneid für Deutschland bis zum letzten Mann und bis zur letzten Patrone eingedenk ihres hohen und wichtigen Auftrag die Position für Führer und Vaterland bis zuletzt gehalten".
Damit war der Irrsinn aber noch nicht zu Ende. Der Nordkessel kämpfte noch bis zum 2. Februar. Von 110.000 bis 130.000 Mann überlebten nur 6000 die Gefangenschaft. Ganz anders sah es bei den hohen Offizieren aus. Von 22 deutschen Generälen starben vier oder fünf. Während seine Männer in den Tod gingen, verließ Paulus sein Quartier mit seinem Mercedes, den mussten die Sowjets zuvor noch für ihn auftanken.