Tötung auf Verlangen "Ich fühle mich nicht schuldig"

Seine Frau wollte sterben, er erstickte sie mit einem Kissen. In einem spektakulären Prozess wurde der Rentner Artur Martens deswegen nun zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Bei stern.de spricht der Hamburger erstmals über die Tat.

Artur Martens erstickte seine Ehefrau Elisabeth mit einem Kissen in der Nacht vom 16. auf den 17. Februar 2006. Sie wollte es, und er tat es. Es war eine Tat aus Liebe, Mitleid und Verzweiflung, sagte die Richterin, die ihn zu sechs Monaten auf Bewährung wegen Tötung auf Verlangens verurteilte - die mildeste aller möglichen Strafen. Ihn frei sprechen, das konnte sie nicht, die Rechtslage lässt es nicht zu.

Kommen Sie rein, sagt er, ein großer, kräftiger Herr mit straffer, aufrechter Haltung, er hat nichts von einem Mann von 78 Jahren, seine Bewegungen haben nichts Ältliches, und er ist konzentriert, direkt, seine Augen schauen blau und gerade, weichen nie aus, auch, als das Gespräch schließlich kippt und schwierig wird.

Denn eigentlich will er nicht über seine Tat reden, sein Anwalt, Matthias Thiel, sitzt während des Gesprächs mit im Zimmer. Wie es in ihm aussieht, darüber mag Artur Martens nichts sagen, und die Fragen bringen ihn auf. Er sitzt im Wohnzimmer, das voll ist von Erinnerungen an seine Frau, ob es der Tisch ist, den sie zusammen gekauft haben oder ein Bild an der Wand, da hängen überall Erinnerungen dran, sagt er und schaut durch den Raum, bis sein Blick an einer Keramikvase hängen bleibt und eine Weile lang schweigt und schließlich sagt, das könnte ich niemals wegwerfen, verstehen Sie?

Erzählen Sie von Ihrer Frau, Herr Martens.

Was soll ich von meiner Frau erzählen? Wir waren 52 Jahre verheiratet, ungewollt ohne Kinder, meine Frau wurde 76 Jahre alt. Wir kannten uns seit 60 Jahren. Wir haben eigentlich immer das Gefühl gehabt und es war auch selbstverständlich, dass es eine glückliche Ehe war. Die uns fehlenden Kinder haben meine Frau dazu bestimmt, sich sehr um unsere Neffen und Nichten zu kümmern. Wenn ich von Familie rede, dann ist das die Familie meiner Frau, ich selbst habe praktisch keine Familie. Meine Frau hat die Familie zusammengehalten. Das war meine Frau. Wissen Sie, ich sehe meine Frau, wie sie war, und mehr werde ich über sie nicht sagen, das ist meine Sache.

Warum haben Sie sie getötet?

Sie hat es sich gewünscht, und ich habe ihr diesen Wunsch erfüllt. Sie hatte seit 40 Jahren Schmerzen in ihren Kiefern, im Mund und im Zahnbereich, keiner wusste, wo diese Schmerzen herkamen, sie hat sich nach und nach alle gesunden Zähne ziehen lassen und trug Prothesen. Sie konnte mit den Schmerzen leben, bis vor zwei Jahren etwa, dann wurde es immer schlimmer. Und irgendwann ging es einfach nicht mehr. Letztes Jahr, da hat es angefangen, "ich will nicht mehr leben", dann haben wir das scherzhaft abgebogen, haben es beide nicht so ernst genommen. Doch ihr Wunsch wurde immer dringlicher, sie wollte, dass ich es tue, und schließlich, habe es ihr versprochen, an jenem Donnerstag ...

... das war der 16. Februar 2006 ...

Wir sind einen Tag zuvor mal wieder aus dem Krankenhaus gekommen, auch dort konnte ihr niemand helfen, sie hatte schlimme Schmerzen, ich habe sie aus dem Krankenhaus rausgeholt zu uns nach Hause. Und sie hat immer gesagt, ich gehe nirgends mehr hin, ich bleibe hier zu Hause und will sterben. Irgendwann sagte sie dann: "Mama, ich möchte zu dir." Ihre Mutter ist vor 18 Jahren gestorben. Das hat mich dann schließlich dazu gebracht, da habe ich dann den Entschluss gefasst, meiner Frau den Wunsch zu erfüllen. War nur die Frage: wie?

Gregor Peter Schmitz mit den Buchstaben GPS

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Und?

Ich habe ihr zunächst drei ihrer Schlaftabletten gegeben ... Ich habe ihr gesagt: Die gebe ich dir und dann verspreche ich dir, dass du morgen nicht mehr aufwachst.

Worüber haben Sie gesprochen? Wie hat sie reagiert?

Wie soll sie reagiert haben? Wie nimmt man Tabletten? Man nimmt sie in den Mund, schluckt, spült nach, hat meine Frau auch so gemacht. Ich weiß nicht, wie andere Leute das sonst machen. Ich kenne es nur so.

Es waren ihre letzten Momente nach 52 Jahren gemeinsamen Lebens. Da redet man doch miteinander.

Wir haben kein Abschiedsgespräch geführt, wenn man es denn so nennen will. Sie hat die Tabletten genommen, ganz bewusst, eine nach der anderen, hat mich immer wieder gefragt: wirklich? Ja, habe ich ihr gesagt, ich verspreche es dir, morgen wachst du nicht mehr auf. Sie wusste genau, was sie tat. Ich wollte, dass sie tief und fest schläft, weil ich sie ja ersticken wollte. Ich sah keine andere Möglichkeit. Und davon sollte sie nichts mitbekommen.

Und Sie waren sich sicher, Sie tun es?

Dafür habe ich es gemacht, und ich war ganz sicher. Ich habe nur gewartet, dass sie einschläft. Ich habe mich auch ganz normal ausgezogen, bin ins Bett gegangen, wie wir es jeden Abend gemacht haben. Und irgendwann ist meine Frau eingeschlafen, es dauerte eine Zeit lang ... Sie hat geschlafen, und ich habe sie mit einem Kissen erstickt. Mehr kann ich nicht sagen.

Wie lange haben Sie das Kissen auf ihr Gesicht gedrückt?

Auch das weiß ich nicht. Aber ich weiß, es war lang. So lang, dass ich wirklich überzeugt war, sie ist tot. Es müssen mehrere Minuten gewesen sein.

Hat sich ihr Körper gewehrt?

Bewegt hat sie sich schon, aber nicht aufgebäumt. Es gab keinen Todeskampf. Es war nicht schwer für mich, dagegen zu halten.

Haben Sie sich vergewissert, dass sie tot ist?

Also wenn man, wie ich, 35 Jahre bei der Feuerwehr gewesen ist, dann hat man genug Tote gesehen. Ich habe nicht ihren Puls gefühlt oder die Pupille geprüft. Ich wusste, sie ist tot. Anschließend habe ich ihr das Kinn hochgebunden.

Warum?

Es war meiner Frau immer ein Horror, jemand könnte sie ohne Zähne sehen. Sogar ich selbst habe meine Frau 40 Jahre lang niemals ohne ihre Prothesen gesehen, obwohl sie sie abends raus genommen hat. Sie wollte das nicht. Ich durfte auch nicht ihre Prothesen sehen, wenn sie sie herausgenommen hatte. So penibel war meine Frau mit ihren Zähnen. Dann habe ich lange da am Bett gesessen, habe überlegt: Was machst du jetzt?

Wie sah es in Ihnen aus nach der Tat?

Leer war ich. Nichts sonst. Leer. Und ich hatte ja auch vor, erst meiner Frau den Wunsch zu erfüllen und dann selbst Schluss zu machen.

Sie haben es nicht getan ...

... dafür war ich dann zu feige. Zu feige, von der Brücke zu springen. Noch zu Hause habe ich einen Brief an die Polizei geschrieben, dass ich meine Frau getötet habe und dass ich mich jetzt selbst umbringe. Und einen Brief an meine Nichte habe ich geschrieben. Am Morgen bin ich dann mit dem Auto losgefahren, bin hunderte von Kilometer gefahren, kreuz und quer durch Norddeutschland. Schließlich bin ich zur Fehmarnsundbrücke gefahren. Da wollte ich runterspringen. Warum sollte ich denn noch alleine leben? Ich habe meine Nichte noch angerufen, sie sollte es nicht von der Polizei erfahren, aber das Gespräch brach mitten drin ab, das Handy war leer. Aber ich war einfach zu feige ...

Sie klingen so, als ob Sie sich dafür schämten.

Tue ich auch.

Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie auf der Brücke standen?

Ich war zu feige, da runter zu springen. So. Was soll man da sagen? Was soll man da fühlen? Nichts. Ich war zu feige. Das war alles. Das langt doch, glaube ich.

Wie ging es weiter, Herr Martens?

Ich bin zurück und habe meine Nichte von einer Telefonzelle aus angerufen. Sie sagte nur: Komm nach Hause, wir haben die Polizei schon alarmiert, komm doch, die Kinder wollen auch, dass du kommst. Und das habe ich dann gemacht. Sie haben mich ganz offen aufgenommen, wie ich es mir nicht hätte vorstellen können ....
... ich habe meine Frau umgebracht und bin dann zur Famile meiner Frau gegangen. Wenn man dann da so hinfährt und ich weiß, wie sehr meine Nichte an meiner Frau gehangen hat und man hat eben gesagt: Ich habe Elisabeth umgebracht ... Und dann wird man mit offenen Armen empfangen ...
Ich war ein gebrochener Mann, so hieß es im Gericht. Und es stimmt. Das Wort war richtig.

Fühlen Sie sich schuldig?

Darüber habe ich häufig nachgedacht, und ich lehne das Wort "Schuld" in diesem Zusammenhang ab. Ich habe meine Frau getötet, weil sie darum gebeten hat.

Haben Sie Schuldgefühle, Herr Martens?

Ich kann damit weiterleben, dass ich meine Frau auf ihren Wunsch hin getötet habe. Und das Wort "Schuld", nein, sage ich. Einfach nein! Ich. Bin. Nicht. Schuldig.

Das sagt niemand. Es war eine Frage.

Ja. Und dann sage ich: nein.

Sie wollen da nicht drüber reden, was in Ihnen vorging? Über Ihre Gefühle zu Ihrer Tat.

Über Gefühle rede ich nicht, nein.

Warum nicht?

Dafür sind wir nicht erzogen worden. Ich bin 78 Jahre alt. Und wir sind nicht zum Gefühlezeigen erzogen worden.

Sie haben eben Gefühle gezeigt, das ist normal in so einer Situation wie der Ihren.

Früher hat man immer gesagt: Gerade Haltung, kalt duschen, und damit kommst du überall durch. Kommt man nicht, wie ich inzwischen weiß. Aber die Grundhaltung ist immer noch da. Bis zum Tag, an dem ich meine Frau tötete, habe ich das auch richtig gefunden, doch seitdem habe ich gemerkt, dass Gefühle wirklich sehr dominierend werden können.

Warum reden Sie dann überhaupt mit mir?

Ich bin überzeugt worden, dass es gut ist, mit Ihnen zu sprechen. Vielleicht hilft es, den Gesetzgeber dazu zu bewegen, irgendetwas zu tun, möglichst in dem Sinne, dass Sterbehilfe unter bestimmten Bedingungen zulässig ist. Die ganze Gesetzgebung - das ist es ja, was es meiner Frau und mir so schwer gemacht hat. So schwer, dass ich es sein musste, der ihr den letzten Wunsch erfüllen musste.

Interview: Oliver Link