Weihnachten - Zeit der großen und kleinen Geschichten fürs Herz. Die stern.de-Redaktion teilt mit Ihnen ganz persönliche Erlebnisse rund ums Fest.
"Willst du nicht mal rauskommen?" Die Stimme meiner Mutter klingt wenig vertrauenerweckend. "Ho, ho, ho", sagt der Weihnachtsmann. Ich beiße auf meinen kleinen Daumen. Das hört sich gar nicht gut an. "Sei nicht albern und komm jetzt endlich da raus!" Mein Stiefvater versucht, die Situation durch Autorität zu lösen. Aber das macht es nur noch schlimmer. Ich drücke mich in die hinterste Ecke. Hier, unter meinem Bett, ist es zwar dunkel und staubig, aber auch sicher. Wie ich hierher gekommen bin? Das fing genau genommen schon vor ein paar Wochen an. Mit der Weihnachtszeit.
Es ist 1980, ich bin drei und Einzelkind (nicht mehr lange, aber das wissen wir damals nicht) und das ist das erste Weihnachtsfest, an das ich mich erinnern kann. Die ganze Welt glitzert in Rot und Grün und Gold. Überall gibt es Schokolade und Marzipan und eigentümliche Musik, die mein Kinderherz berührt. Ich weiß nicht genau, was das alles bedeutet, aber ich finde es wunderschön. Auch die Sache mit dem Weihnachtsmann stößt bei mir auf größte Verzückung - er bringt den Kindern Geschenke. Mir auch. Aber was?
"Mach mal die Augen zu - was du dann siehst, das ist deins", antwortet mein Stiefvater auf meine Nachfrage. Ich mache die Augen zu - und sehe eine ganze Welt voller Puppen und Baumhäuser und sprechender Teddys. Da ist so viel, was ich mir wünsche. Darum feile ich gewissenhaft an meinem Wunschzettel und überarbeite ihn wochenlang mehrfach. Auf keinen Fall will ich mir das Falsche oder zu viel oder zu wenig wünschen. Der Zettel ist nur gemalt, aber das ist für den Weihnachtsmann kein Problem. Nehme ich an.
Und dann kommt inmitten der magischen Festlichkeit dieser eine verhängnisvolle Tag. Ich weiß nicht mehr genau, was ich angestellt habe oder anstellen wollte. Nur, dass es morgens ist und meine Mutter gestresst. Mit gereizter Stimme erklärt sie mir: "Der Weihnachtsmann hat ein großes, schwarzes Buch. Da schreibt er alle Sünden der Kinder rein. Er weiß ganz genau, ob du ein braves oder ein böses Mädchen warst. Und nur die braven Kinder bekommen Geschenke. Die anderen bekommen die Rute. Also sei jetzt lieb!"
Rute. Das habe ich schon mal gehört, das ist ein Stock. Ich fange an zu zweifeln. Der Weihnachtsmann verhaut Kinder? Kann ich mir irgendwie nicht vorstellen. Ich schiebe den Gedanken weg und beschließe, mich weiter von Herzen über Zimtsterne und Goldtaler und Engel und Glöckchen zu freuen.
Weihnachtsmann? Da war doch was
Dann ist es so weit: Heiligabend. In den rotglänzenden Christbaumkugeln spiegelt sich der übervolle bunte Teller. Ich trage ein hübsches blaues Kleid mit weißem Kragen und nicht Shakin'-Stevens-Pullover und Latzhose wie sonst. Im Radio läuft wieder diese schöne Zaubermusik. Sie wird von einem schrillen Klingeln unterbrochen. "Oha, das ist bestimmt der Weihnachtsmann", sagt meine Mutter lächelnd und bewegt sich in Richtung Tür.
Weihnachtsmann? Da war doch was. Richtig, die Rute. Das große schwarze Buch. Schlagartig fallen mir alle Verfehlungen der letzten Wochen wieder ein. Da dürfte sich einiges angesammelt haben. Plötzlich bin ich mir nicht mehr sicher, ob es tatsächlich Geschenke für mich gibt. Klarer Fall: Ich muss aus der Gefahrenzone und in Ruhe nachdenken. Wie ein Blitz husche ich unters Bett. Und da bin ich nun.

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"Du hast gesagt, der Weihnachtsmann gibt bösen Kindern die Rute," piepse ich. "Das hab' ich doch nur so gesagt. Der Weihnachtsmann tut dir nichts, Kind. Versprochen." Meine Mutter versucht es mit Säuseln. Aber darauf falle ich nicht rein. "Ich glaube euch nicht! Der hat ein schwarzes Buch!", krakeele ich. Dann interveniert der Weihnachtsmann höchstpersönlich in der Krise. "Ich habe hier Geschenke für dich. Willst du die denn gar nicht haben?" Ein Mann mit maskenglattem Gesicht und Wattebart beugt sich zu mir herunter. Ha, Geschenke. Genau. Der will mich doch nur rauslocken. Nicht mit mir. Außerdem sieht der komisch aus. Ich gehe auf Nummer sicher und bleibe unter dem Bett. "Ich komme erst wieder raus, wenn der weg ist", verkünde ich schließlich. Kurz darauf zieht der Weihnachtsmann unverrichteter Dinge wieder ab. Ich warte noch ein bisschen, vorsichtshalber. Dann nehme ich meinen Mut zusammen und krabbele hervor.
Mein Onkel ist zufällig vorbeigekommen, er war grad in der Nähe. Er wirkt irgendwie abgehetzt. Meine Eltern sind ein bisschen mürrisch, aber endlich gibt es Geschenke. Ob die Dinge von meinem Wunschzettel dabei waren, das weiß ich nicht mehr. Nur an die schicken roten Gummistiefel kann ich mich heute noch erinnern. Mit schnullerschiefen Zähnchen grinse ich nach der Bescherung in die Kamera. Ohne Weihnachtsmann ist Weihnachten nämlich wirklich ziemlich super.