Wenn Amtsarzt Gerhard Bojara morgens um acht den Untersuchungscontainer betritt, bildet sein Atem weiße Wolken. Wenige Meter entfernt schlafen 450 Flüchtlinge in Zelten. Der Platz in den festen Häusern der niedersächsischen Erstaufnahme in Bramsche-Hesepe reicht längst nicht mehr für die rund 2500 Menschen. Und so stehen hier wie fast überall in Deutschland auch Zelte. Dicht an dicht. Sie werden in diesen Wochen Holzböden und bessere Heizungen bekommen. Und Schutzüberzüge gegen Sturm und Schnee. Sie müssen noch lange halten. "Aber bei diesen Temperaturen", sagt Bojara, "gehören Menschen nicht in Zelte. Kleine Kinder und Säuglinge schon gar nicht." Schon jetzt behandeln die Ärzte in deutschen Unterkünften immer öfter Kinder mit Bronchitis und Lungenentzündung, und immer öfter auch: Menschen, die an Grippe erkrankt sind.
Kein Plan und niemand ist schuld
Dieser Text erschien im stern 45/2015.
Es ist zu kalt für Oktober in diesem Jahr. Ausgerechnet in diesem Jahr. Jeden Tag erreichen Tausende die deutschen Grenzen. Jeden Tag werden neue Unterkünfte eröffnet und Wohnungen angemietet. Aber die Wahrheit ist: Viele Menschen werden in diesem Winter frieren. Und viele von ihnen werden erkranken.
Die Wahrheit ist auch: Deutschland ist nicht gut darauf vorbereitet, so viele Menschen medizinisch zu versorgen. Dabei gäbe es theoretisch genug Ärzte und genug Geräte. Was fehlt, ist ein Plan.
Wer bei den Sozialministerien, Landkreisen und Gesundheitsämtern fragt, wie es um die Versorgung der Flüchtlinge steht, stößt auf Mauern. Auf sehr hohe Mauern. Zuständige Ansprechpartner stehen nicht zur Verfügung, Pressesprecher schicken ausweichende Antworten, und am liebsten wird auf andere Ebenen der Verwaltung verwiesen. Der Apparat ist im Stress. Und schuld sein will keiner.
Verantwortung übernehmen und informieren
"Aber so kommen wir nicht weiter", sagt Bojara, der in Bramsche nicht nur Arzt ist, sondern auch Leiter des Gesundheitsdienstes für Landkreis und Stadt Osnabrück. Er verfolgt die umgekehrte Strategie: "Ich fühle mich mitverantwortlich für das, was hier passiert. Und wenn es Missstände gibt, weise ich darauf hin." Auf das Informationschaos zwischen all den Verwaltungsebenen. Auf die Feuchtigkeit in den Zelten. Auf die Infektionsgefahr. Wegen des geschwächten Zustands der Menschen.
Jeden Tag untersuchen Bojara und seine Kollegen 150 Bewohner. Um ihnen zu helfen, aber auch um ansteckende Krankheiten wie Windpocken, Tuberkulose oder auch Krätze feststellen zu können - und deren Verbreitung zu verhindern. Ein Teil der Patienten sind Neuankömmlinge. Der weitaus größere Teil aber besteht aus Leuten, die nach ihrer Ankunft noch nicht untersucht werden konnten.
Wartezeiten von neun Wochen
Eigentlich soll jeder neue Bewohner einer Erstaufnahmeeinrichtung nach wenigen Tagen gecheckt werden. Die medizinischen Standards aber waren vielerorts die ersten, die fielen, als im August die Zahl der Ankommenden vermeintlich plötzlich in die Höhe schoss. In der Erstaufnahme im hessischen Gießen betrug die Wartezeit zwischenzeitlich gut neun Wochen. Wochen, in denen keiner wusste, was die Menschen, die in den Unterkünften so beengt zusammenleben, womöglich an Keimen und Viren im Körper trugen. Seither wurde das Personal kräftig aufgestockt, doch noch immer vergehen zwei bis drei Wochen, bis die Flüchtlinge einen Arzt sehen. Wie heikel das ist, zeigen die Befunde derjenigen, die in diesem Jahr untersucht wurden: Die Ärzte entdeckten insgesamt 55 Bewohner, die an Tuberkulose erkrankt sind. In etwa der Hälfte dieser Fälle handelte es sich um offene Tuberkulose, die ansteckendste Form.
Etwa 6000 Menschen wohnen in dem alten US-Depot auf engstem Raum, es ist Deutschlands größte Erstaufnahme. Niemand vermag zu sagen, wie viele sich angesteckt haben könnten, denn Tuberkulose bricht, wenn überhaupt, erst nach Monaten oder Jahren aus. Das bedeutet einerseits, dass die 55 Betroffenen sich nicht erst in Deutschland mit Tuberkulose infiziert haben können, es handelt sich also nicht um einen akuten Ausbruch. Andererseits heißt das aber auch, dass wegen der langen Wartezeit auf die Erstuntersuchung sehr viele Menschen mit den unbehandelten TB-Kranken in Kontakt gekommen sind. Und dass einige daran erkranken werden.
Stress auf der Flucht schwächt das Immunsystem
Das Risiko für die Gesamtbevölkerung gilt dennoch als gering. Zwar steigt die Zahl der Erkrankten, doch vor allem unter den Zuwanderern - die Zahl der Fälle in der übrigen Bevölkerung bleibt stabil. So war es auch bei den letzten großen Einwanderungswellen, als in den Neunzigern Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion kamen und Kriegsflüchtlinge aus Ex-Jugoslawien. Und jedes Mal haben sich die Zahlen wegen der guten Behandlungsmöglichkeiten nach einiger Zeit normalisiert.
"Tuberkulose ist normalerweise nicht sehr ansteckend", sagt der Stuttgarter Amtsarzt Martin Priwitzer. Er ist Vizepräsident des Deutschen Zentralkomitees zur Bekämpfung der Tuberkulose. Ein echtes Risiko bestehe nur bei engem Kontakt oder wenn ein Mensch mit offener Tuberkulose einem anderen direkt ins Gesicht huste. Und selbst wer sich ansteckt, wird nur selten tatsächlich krank: Nur bei einem von zehn Infizierten bricht Tuberkulose tatsächlich aus. Doch die Familien und Mitbewohner der Erkrankten in den Unterkünften sind durchaus gefährdet - vor allem wenn ihr Immunsystem durch Stress, Kälte und andere Infekte geschwächt ist.
Mit dem Taxi zum Röntgen
"Wenn in dieser Gemengelage Leute so lange nicht untersucht werden, dann ist das einfach: schlecht", sagt Priwitzer. Zu lange, so scheint es, haben die Behörden nicht Alarm geschlagen, vielleicht auch, um keine Ängste zu schüren. In Gießen, heißt es, konnten zeitweise nicht einmal mehr ansässige Mediziner dem Gesundheitsdienst in der Unterkunft ihre Hilfe anbieten. Man habe sie nicht aufs Gelände gelassen. Hinzu kommt, dass Vorgaben der Bundesländer für die Erstuntersuchung zu komplex sind - wenn zum Beispiel Blut- und Stuhluntersuchungen dazugehören, aber kaum noch jemand den Überblick über all die Laborbefunde hat, so bindet das Kräfte, ohne wirklich zu helfen. Allzu oft fehlt vor Ort auch schlicht die nötige Ausrüstung, vor allem Röntgengeräte, obwohl die Aufnahme der Lunge wegen möglicher Tuberkulose bei jedem Neuankömmling Pflicht ist. Bei Gerhard Bojara in Bramsche werden die Leute deshalb nun jeden Vormittag mit Großraumtaxen in Kliniken und Röntgenpraxen der Umgebung gefahren.
In mehr als 50 Fällen ist den Behörden in diesem Jahr schon die Bundeswehr beigesprungen. Das geht auf Länderebene auch ohne Katastrophenfall und Parlamentsbeschluss, es geschieht im Rahmen der technischen Amtshilfe. Der Sanitätsdienst unterstützt mit Personal, in Bundeswehrkrankenhäusern und mit mobilen Röntgengeräten. Allein: Die Bundeswehr besitzt nur 15 solcher Einheiten, die sie für die Flüchtlingshilfe einsetzen kann.
Eigentlich, sagen Wissenschaftler, Freiwillige und Amtsärzte, gebe es im deutschen Gesundheitssystem noch ausreichend Ärzte und Apparate. Überall, wo sich die öffentlichen Gesundheitsdienste geöffnet haben, wo sie niedergelassene Mediziner und Krankenhäuser mit in die Erstuntersuchungen einbeziehen, verkürzen sich die Wartezeiten. Das System kommt in Schwung - allmählich.
Impfungen wäre dringend nötig - doch es mangelt an Zeit und Präparaten
Diese Öffnung ist wohl auch der einzige Weg, um ein anderes Problem in den Griff zu bekommen: In vielen Erstaufnahmeeinrichtungen wird kaum noch geimpft. Dabei hat der Ausbruch von Masern in Berlin im vergangenen Winter gezeigt, wie gefährlich fehlender Impfschutz für die übrige Bevölkerung werden kann. Dort hatten sich die Masern monatelang in einigen Notunterkünften verbreitet - bis sie schließlich auf ungeimpfte Berliner übergingen. 1359 Menschen steckten sich an. Ein anderthalb Jahre alter Junge starb. Erst seit diesem August gilt der Ausbruch offiziell als besiegt.
Dennoch impfen die Gesundheitsbehörden gerade nur notdürftig - oder gar nicht. Allzu oft sind sie schon mit Erstuntersuchung und Grundversorgung überlastet. Auch das von den Landesministerien vorgegebene Prozedere erweist sich als zu umständlich. Und erschreckend häufig fehlt es an Impfstoff, weil die Lieferanten Schwierigkeiten bei der Herstellung haben. Die Impfstoffe für Masern, Mumps und Röteln waren in den vergangenen Jahren immer wieder knapp. Dasselbe gilt für Hepatitis A und den Einzelwirkstoff gegen Kinderlähmung.
Infektionsschutz durch alternative Präparate
Das für den Infektionsschutz in Deutschland zuständige Robert Koch-Institut hat deshalb Mitte Oktober eine Empfehlung veröffentlicht, in der es alternative Präparate nennt. Ärzte können darauf ausweichen ohne damit höhere Risiken für die Patienten in Kauf zu nehmen. Seither prüfen die Gesundheitsministerien der Länder, wie sie die Empfehlung umsetzen können. Am weitesten sind die Planungen für den Grippeschutz. Die Behörden bestellen das Mittel gerade in 10.000er Chargen - wenigstens diese Vorräte werden wohl reichen.
Amtsarzt Gerhard Bojara wäre es am liebsten, er könnte in Bramsche sofort eine große Impfaktion gemeinsam mit allen freiwilligen Helfern starten, die alle 2500 Bewohner in einem Rutsch versorgen.
Denn sie werden hier noch eine ganze Weile so beisammenleben müssen. Womöglich ein halbes Jahr, wie das gerade beschlossene Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz vorsieht. In der Enge. In den Zelten. Und es ist zu kalt für Oktober in diesem Jahr.
Ausgerechnet in diesem Jahr.