Mein Traummann hat Migräne. Na und? Das kriegen wir schon hin. Dachte Corinna Neumann*, als sie sich vor zwei Jahren in Anton Beyer* verliebte. Mit ihm stimmte einfach alles. Er teilte ihre Begeisterung für Oper, Konzerte und Ausstellungen und ihre Lust zu reisen. Dass dieser wunderbare Mann fast jeden Opernbesuch wegen rasender Kopfschmerzen absagen würde, konnte sie sich damals nicht vorstellen. Sie hatte keinen Schimmer, was Migräne bedeutet. Bis die 46-Jährige beim ersten gemeinsamen Wochenendausflug, der ein Liebesfest sein sollte, stundenlang alleine auf der Hotelterrasse saß. Ihr Freund lag im Zimmer und kämpfte mit dem Schmerz. Sie wusste nicht, was sie tun sollte: an seinem Bett sitzen und warten? Tee kochen? Ihm etwas zu essen bringen? Einen Arzt rufen? Das geht sicher schnell vorbei, dachte sie, morgen ist er wieder fit, dann holen wir alles nach.
"Ich habe ständig Angst, dass ich was falsch mache und meine Mama dann wegen mit einen Migräneanfall bekommt"
Ein Jahr später - das Paar wohnte mittlerweile zusammen - hatte Corinna Neumann das Gefühl, in einen Strudel geraten zu sein. Der Anblick seiner Medikamententasche, die er überall dabei hatte, machte sie an manchen Tagen rasend. Wenn sie von der Arbeit nach Hause kam und sah, dass er im Schlafzimmer die Jalousien heruntergelassen hatte, stieg Wut in ihr hoch. "Ich war stinksauer, aber das darf man ja nicht zeigen. Ich wollte doch eine mitfühlende Partnerin sein, und gleichzeitig dachte ich: Was bist du nur für eine egoistische Zicke." Nachts, wenn sie schlief, hielt der Schmerz ihn wach. Wenn sie morgens zur Arbeit ging, dämmerte er endlich weg. Wenn freitagabends seine Augen starr wurden, zog sich alles in ihr zusammen. "Dann schlug meine Vorfreude in Resignation um, und ich wusste, dass das Wochenende mal wieder gelaufen war."
Anfangs war sie noch voller Elan und versuchte, ihn zu animieren: Lass dich nicht so hängen. Geh mal an die frische Luft. Stell deine Ernährung um. Doch irgendwann resignierte sie. Manchmal, wenn Corinna Neumann nicht mehr wusste, wohin mit ihren Gefühlen, schnauzte sie ihn an. Er fühlte sich unverstanden und ungerecht behandelt und schnauzte zurück. Nach einem gemeinsamen Jahr Migränestress waren Corinna Neumann und Anton Beyer mit den Nerven am Ende. Er wollte ausziehen, weil er sich für unzumutbar hielt.
Wer einen migränekranken
Partner liebt, ist hin- und hergerissen zwischen Anteilnahme und Wut, Pflichtgefühl und eigenen Bedürfnissen, Hilfsbereitschaft und Erschöpfung. Thomas- Martin Wallasch, Neurologe und Leiter des Kopfschmerzzentrums im Berliner St. Gertrauden-Krankenhaus, spricht von einer "schizoiden" Situation. "Der Partner möchte treusorgend und mitfühlend sein und muss gleichzeitig damit klarkommen, dass der andere ihm während der Migränephase nicht zur Verfügung steht und ihm dadurch auch eigene und gemeinsame Lebenszeit verloren geht. Das kann zu großen Konflikten führen."
"Manchmal kam mir schon die Galle hoch, wenn seine Gesichtshaut sich verfärbte und ich wusste, jetzt geht es wieder los", erzählt Anne Margret Karheiding, die auf 45 Jahre Erfahrung mit einem migränekranken Mann zurückblickt. Gleichzeitig konnte sie es nicht ertragen, wenn jemand ihren Mann als Simulanten hinstellte. "Solchen Leuten wünschte ich manchmal aus Zorn einen ordentlichen Migräneanfall." Mit den Jahren lernte sie, ihre eigenen Interessen nicht zu vergessen vor lauter Mitgefühl. Kündigt sich heute eine neue Attacke an, stellt sie ihm einen Kamillentee und seine Medikamente ans Bett und macht einen Spaziergang. "Ich habe mir eine dicke Schutzschicht zugelegt und lasse sein Leiden nicht mehr so dicht an mich herankommen."
Diese Distanz gelingt nicht allen. In seinem Buch "Weil ich mit Schmerzen leben muss"* lässt Hartmut Göbel, Leiter der Kieler Schmerzklinik, einen 55-jährigen Mann zu Wort kommen, der sich von der Wochenendmigräne seiner Frau vollkommen zermürbt fühlte: "War diese Wochenendmigräne ein Zeichen dafür, dass sie mich im Grunde genommen gar nicht mehr wollte? Benutzte sie unser gemeinsames Zuhause als bequemes Quartier, in dem sie ihre Wehwehchen pflegen konnte, um danach draußen in der Welt wieder strahlend und quicklebendig an ihrer Karriere zu basteln? Ich glaubte zu keiner Zeit, dass sie ihre Anfälle bewusst provozierte, aber für mich fühlte es sich an, als seien sie gegen meine Person gerichtet."
Kinder quälen sich mit Schuldgedanken
Vor allem die Kinder migränekranker Eltern werden durch die Wucht des Leidens erschüttert. Sie quälen sich mit Angst und Schuldgedanken. Sie fühlen sich vernachlässigt und sind sehr früh auf sich selbst angewiesen. Sie müssen Belastungen übernehmen, mit denen sie eigentlich überfordert sind.
"Lieber Gott, bitte mach, dass die Mutti wieder gesund wird", hat die 19- jährige Marie-Luise Kämmler als Kind oft gebetet. An fast allen Wochenenden lag ihre Mutter allein im stockdunklen Schlafzimmer und musste sich übergeben. "Ich habe immer geweint, weil ich nicht verstanden habe, was mit ihr los war, und ich nicht wollte, dass sie leidet." Der Vater fiel als Ansprechpartner aus. Er war auf Montage und kam nur am Wochenende nach Hause. Die Tochter lernte früh, Rücksicht zu nehmen, Türen leise zu schließen und alles mit sich alleine auszumachen. Guck mal, Mama, was ich gemalt habe. Der Jochen war heute total gemein zu mir. Mama, ich versteh Mathe nicht, kannst du mir helfen? Diese Sätze musste sie hinunterschlucken. Schlimm war die Angst: "Ich hatte ständig Sorge, dass ich was falsch mache und meine Mama dann wegen mir einen Migräneanfall bekommt."
Belastend findet sie auch, dass kaum jemand versteht, was sie durchmacht. Ihre Schulfreundinnen schütteln den Kopf, weil sie stets um zehn Uhr abends schon nach Hause geht, damit ihre Mutter sich nicht aufregt. Dass sie trotz dieser Belastungen das Abitur geschafft hat und gerade eine Ausbildung zur Diätassistentin macht, erfüllt sie mit Stolz. Seit die Mutter eine Selbsthilfegruppe gegründet und dadurch neuen Mut geschöpft hat, ist auch Druck von Marie-Luises Schultern gefallen. Sie träumt jetzt manchmal von einer eigenen Wohnung.
Migränepatienten sind häufig extrem leistungsorientiert
"Migränepatienten sind oft nicht ganz ehrlich mit ihren Grenzen, sie senden widersprüchliche Botschaften und erwarten sehr viel von ihren Angehörigen", sagt Gesa Gräfer, Diplompsychologin und Verhaltenstherapeutin am Berliner Kopfschmerzzentrum. Aber auch an sich selbst stellen Migränepatienten hohe Ansprüche. "Sie sind häufig extrem leistungsorientierte und verlässliche Lebenspartner, die sich um alles kümmern und immer für die anderen da sind. Von dieser Seite der Migräne profitieren die meisten Angehörigen gerne und stabilisieren damit das System der Überforderung."
Die Ärzte und Therapeuten des Berliner Kopfschmerzzentrums praktizieren einen integrativen Ansatz, der das Familiengefüge deshalb mit einbezieht. Im Anamnesegespräch werden die Patienten auch nach Problemen in der Ehe, nach Stress mit kranken Eltern oder Konflikten am Arbeitsplatz befragt. Oft stellt sich heraus, dass Migräniker in einer schwierigen Situation leben und ein Familiengeheimnis decken, zum Beispiel einen alkoholkranken Partner. "Migräne hat in der Familiendynamik oft die Funktion, einen Rückzug durchzusetzen, der auf anderem Wege nicht gelingt", erklärt Gesa Gräfer.
Ganz deutlich beobachten die Berliner Therapeuten das bei 13- oder 14-Jährigen, die wegen täglicher Kopfschmerzen in die Sprechstunde kommen. "Häufig stellt sich heraus, dass die Eltern extreme Leistungsansprüche an ihre Kinder stellen", so Thomas-Martin Wallasch. "Sie müssen super Noten haben, sportlich sein, toll aussehen und mindestens drei Fremdsprachen sprechen." Ziel der Behandlung im Gertrauden-Krankenhaus ist, dass die Patienten die Auslöser für eine Attacke rechtzeitig wahrnehmen und gegensteuern. "Das bedeutet auch, dass sich im Familiengefüge etwas ändert. Dass man gemeinsam schaut, wie man sich gegenseitig entlasten und in der Familie ein ausgewogeneres Verhältnis von Anspannung und Entspannung schaffen kann."
Kommunikation ist
laut Wallasch ein Schlüsselbegriff: Wie geht es mir während der Attacken? Was wünsche ich mir konkret von meinem Partner? Bringt es mir etwas, wenn der andere neben mir am Bett sitzt? Oder geht es mir und ihm besser damit, wenn er die Zeit für sich nutzt und zum Sport geht oder Freunde trifft? All das sind Fragen, die Migräniker mit Angehörigen besprechen sollten.
In speziellen Symposien der Migräneliga finden Betroffene die Gelegenheit, sich über das Leiden, die Bedürfnisse der Kranken und die Probleme der Angehörigen zu informieren und auszutauschen. Mancher versteht erst durch die Vorträge, was sein Partner seit Jahren durchmacht.
Corinna Neumann fand diese erlösende Erkenntnis in einer Selbsthilfegruppe, zu deren Treffen sie ihren Partner Anton Beyer begleitete. "Dort saßen 15 Leute, die alle bestätigten: Es ist, als ob ich einen Eisenkranz auf dem Kopf hätte, und die Nadeln bohrten sich ins Gehirn. Da habe ich zum ersten Mal kapiert, wie furchtbar das ist." In den Gesprächen mit anderen Migränikern erfuhr Beyer zudem von einem Medikament, das er noch nicht kannte. Seit er es nimmt, haben die Attacken deutlich abgenommen.
Das Paar hat noch einmal von vorne angefangen. "Wir holen jetzt alles nach", sagt Corinna Neumann. "Wir gehen ins Kino, ins Theater. Wir sind sehr glücklich."
* Namen von der Redaktion geändert