Warum hat es gerade mich erwischt? Diese Frage quält unzählige Krebspatienten. Ihre zutiefst menschliche Sehnsucht, einen Sinn im Sinnlosen zu finden, treibt sie dazu, fieberhaft nach Gründen zu suchen. Nur selten allerdings liegt der Auslöser eines Tumors auf der Hand - wie bei Rauchern, die an einem Lungenkarzinom erkranken.
In den übrigen Fällen bietet die Theorie, Krebs sei eine Folge unterdrückter Gefühle, eine scheinbar plausible Deutung. Schließlich ist das Krebsgeschwür, das tief im Inneren des Körpers wächst, eine eindrucksvolle Metapher für all die Sorgen und Ängste, die ein Patient im Laufe seines Lebens in sich hineingefressen hat. Zudem passt die Erklärung immer, denn ungelöste Probleme schleppt jeder mit sich herum.
Schon in der Antike geläufig
Diese schon in der Antike geläufige Idee fand in den 60er Jahren unter dem Etikett "Krebspersönlichkeit" Eingang in die Wissenschaft: Gehemmte, melancholische Menschen sollten demnach eher an Krebs erkranken als lebhafte, extrovertierte Persönlichkeiten.
Seither haben Forscher in vielen Studien nach dem vermuteten Zusammenhang von Krebsentstehung und Psyche gefahndet - ohne Erfolg. Sie fanden nicht den geringsten Hinweis darauf, dass eine Tumorerkrankung seelisch bedingt sein könnte. Eine "Krebspersönlichkeit" existiert nach allem, was man heute weiß, nicht.
Zwar bedeuten Sorgen und Ärger Stress, und Stress schwächt nachweislich das Immunsystem. Doch die Wechselwirkungen von Krebs und Immunsystem sind nicht so klar, wie Laien es sich gern vorstellen. Krebszellen zeichnen sich nämlich gerade dadurch aus, dass sie auch ein ansonsten funktionstüchtiges Immunsystem austricksen. Manche Tumorzellen tarnen sich sogar durch bestimmte Moleküle auf ihrer Oberfläche, um die Abwehr des Körpers zu unterlaufen. Deshalb funktioniert es in aller Regel auch nicht, einen Tumor dahinschmelzen zu lassen, indem man ganz allgemein die Abwehrkräfte anregt.
Mehrere fatale Genveränderungen
Inzwischen wissen Forscher recht gut, wie Krebs entsteht: Durch schädliche Umwelteinflüsse, körpereigene Stoffwechselprodukte, Infektionen oder auch durch Zufall treten im Erbgut Mutationen auf. Meist müssen mehrere fatale Genveränderungen zusammenkommen, bis eine Zelle entartet und sich ungehemmt vermehrt.
Trotz dieser Erkenntnisse lassen sich viele Menschen nicht davon abbringen, in Krebs eine Folge seelischer Belastungen zu sehen - oder eine Botschaft aus dem Unbewussten, sein Leben zu ändern. Gegen diese Form der Sinnstiftung ist nicht viel einzuwenden, wenn sie dem Kranken hilft, seine Lage zu bewältigen. Oft aber führen die konstruierten Begründungen zu Schuldgefühlen, ja zur Ausgrenzung nach dem Motto: "Der hat sich das selbst zuzuschreiben." Auch Angehörige plagen sich vielfach mit Selbstvorwürfen, häufig über den Tod des Kranken hinaus. Die Entstehung von Krebs als Verkettung unglücklicher Zufälle zu begreifen kann in solchen Fällen befreiend wirken.