In seinem neuen Roman "Landnahme" bleibt Schriftsteller Christoph Hein bei seinem Lieblingsthema, dem Osten Deutschlands. Er erzählt die Geschichte von Bernhard Haber: Für seine Klassenkameraden ist der Zehnjährige der "Polacke". Später rufen sie den Flüchtlingsjungen "Holzwurm" - sein Vater, ein Kriegsinvalide, ist Tischler. In der sächsischen Kleinstadt Guldenberg sieht man nach Kriegsende die Vertriebenen als "Strafe Gottes". Die Habenichtse sollen lieber heute als morgen wieder verschwinden. Deshalb machen die Einheimischen ihnen das Leben so schwer wie möglich. Bernhard erleidet Kränkung und Ablehnung. Er schwört Rache. Er will es denen heimzahlen.
Obwohl Habers Lebenslauf scheinbar wenig mit der großen Historie zu tun hat, spiegelt der Roman über ein halbes Jahrhundert Geschichte von den DDR-Anfangsjahren bis in die Nachwendezeit. Über den liebevoll ausgebreiteten Kosmos einer Provinzstadt hinaus fällt der Blick zwangsläufig auf das Land und seinen Staat. In "Landnahme" sind die "kleinen Leute" die Helden. Munter reden sie über ihre Vergangenheit, von Liebe und Vertrauen genauso wie über Ängste, Heuchelei, Anpassung, Verdrängung und Gewalt.
Abenteuerlicher Aufstieg
Über das Außenseiter-Dasein Habers und seinen abenteuerlichen Aufstieg ins "Etablissement" des Handwerk ausübenden Mittelstandes im DDR-Sozialismus lässt Hein fünf Zeitzeugen berichten: Klassenkameraden, Mitschüler, Freunde, Geliebte, Geschäftspartner. In ihren Augen hat Bernhard viele Gesichter. Er kann misstrauisch, verstockt und aggressiv, aber auch bauernschlau und zäh sein. "Der weiß, was er will, und er bekommt, was er will."
Einbruch im Schatten des 17. Juni
Hein, nach eigenem Bekunden "Chronist ohne Botschaft", hält sich an das Prinzip seiner früheren Arbeiten. "Der Moralist mag der Leser sein." Während ein paar Arbeiter am 17. Juni 1953 auf dem Guldenberger Marktplatz ihrer Unzufriedenheit Luft machen, nutzen Bernhard und ein Freund den Streik zum Einbruch in den unbewachten Bauwagen.
Vom Trottel zum Glückskind
Das Geheimnis vom plötzlichem Wohlstand des jungen Haber, über den sich die ganze Stadt das Maul zerreißt, kennt nicht einmal seine Frau: Bei Haber hatte die Marktwirtschaft schon im Sozialismus begonnen. Als Karussellbesitzer getarnt, hatte Haber vor dem Mauerbau 1961 als "Fluchthelfer" mit seinem Auto Systemgegner aus dem Osten nach West-Berlin geschafft. Seine Hilfe ließ er sich teuer bezahlen; die Gelder reichten für die eigene Tischlerei. Der "kleine Trottel" - so die Meinung seiner Jugendliebe - scheint irgendwie doch ein Glückskind zu sein. Nach der Wende geht es dem Aufsteiger noch besser. Seine Firma bekommt die besten Großaufträge. Er wird Stadtrat und Vorsitzender des Karnevalvereins. Auf Rache kann er jetzt verzichten.
Irma Weinreich, DPA
Christoph Hein: Landnahme
Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main
360 Seiten, 19,90 Euro