Vor einigen Jahren reiste der Dichter Raoul Schrott im Schlafwagen nach Neapel. In dieser Nacht beobachtete der Literat zum ersten und bisher einzigen Mal in seinem Leben einen Schaffner, der Ernst Jünger las. Ein junger Mann, kaum über zwanzig, mit sehr kurzem Haar, das Buch vorsichtig auf den Knien seiner königsblauen Uniform.
Schaffner sind überall
Jahre später sollte Schrott gemeinsam mit einem jungen Schriftsteller namens Steffen Kopetzky in Berlin lesen. Das Thema war »Reisen« und Schrott einigermaßen überrascht, als er sich auf der Bühne plötzlich neben dem Schaffner von einst wiederfand. Steffen Kopetzky, diesmal im dunklen Dreiteiler, hatte gerade sein erstes Buch veröffentlicht und war dabei, einen großen Roman über das Schlafwagenschaffnern, das Reisen, die Zeit, die Liebe und den Zufall zu schreiben.
Der gescheiterte Student geht zur Bahn
Dieser Roman ist erschienen, trägt den Titel »Grand Tour oder die Nacht der Großen Complication« und ist ein witziges, weises, gewagtes, abenteuerliches - kurz: ganz und gar hinreißendes Buch. Zu den wichtigsten Gestalten darin gehört Leo Pardell: fast, aber noch nicht ganz (!) 30, in Berlin als Student der Kunstgeschichte gescheitert. Pleite und beschämt beschließt er, weder Mama noch Ex-Freundin Juliane - für ihn immer noch »die schönste Frau auf der Welt« - sein Scheitern zu gestehen. Stattdessen heuert er als Schaffner der Schlafwagengesellschaft Compagnie des Wagons-Lits an.
Grand Tour
Von April 1999 bis zum großen Finale in der Milleniumsnacht reist Leo durch Europa. Betten machend erledigt er, was im 18. und 19. Jahrhundert eines jungen Mannes aus guten Hause erste Pflicht war: die Grand Tour, das Studium der klassischen Kultur - oder auch nur eine elegante Art, sich die Hörner abzustoßen.
Reisen ist Leben
Leo lernt bezaubernde Städte und Menschen kennen und solche, deren Bekanntschaft man nicht unbedingt gemacht haben muss, und wird nebenbei nichts ahnend zur Schlüsselfigur eines Kriminalfalles. Am Ende ist er erwachsen geworden und hat verstanden, dass Reisen Leben ist und Leben Reisen. Trotz einiger Leihgaben der Realität, sagt Kopetzky, habe er diese Geschichte für sich »vollkommen neu erfinden müssen«. Was er aber mit seinem Helden teilt, ist die Erfahrung der Schaffneruniform. »Plötzlich halten alle einen für ungeheuer kompetent, obwohl man gar keine Ahnung hat.«
Lieber Bäcker als Galerien
Und wie Pardell lebt Kopetzky in Berlin. Genauer: in Neukölln. Das ist der Stadtteil, in dem Männer, in fliederfarbene Ballonseide gehüllt, große Hunde am Stachelhalsband ausführen. Aber Kopetzky liebt Hunde und: »Was nützen mir zehn Galerien in einer Straße, wenn ich am Morgen keinen Bäcker finde?«
Faible fürs Stofftaschentuch
So bodenständig das erscheinen mag, er dürfte dennoch auffallen zwischen all den Fliederfarbenen: ein junger Mann, der formvollendete, vom Studium der Philosophen geschliffene Sätze spricht und zu denen gehört, die das Stofftaschentuch vor dem Aussterben bewahren.
Abschiedsschmerz
Gut vier Jahre hat ihn sein Roman begleitet, eine allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Leben, doch dann war er irgendwann da, der letzte Satz, und mit ihm eine gewisse Trauer. Abschiedsschmerz. Ein Gefühl, das einen auch als Leser auf den letzten Seiten befällt. Jene leichte Wehmut, die sich am Ende einer wunderbaren Reise einstellt.
Hilfsschaffner Kopetzky ist ausgestiegen
Züge fahren immer wieder dieselbe Strecke. Ein ewiges Hin und Zurück, begleitet von Schaffnern in dunkelblauer Uniform. Es gibt gescheiterte Kunstmaler unter ihnen, Physikstudenten im 35. Semester, ehemalige Kommunisten. Sie verkaufen Getränke und wecken einen pünktlich. Das Gefühl, bei ihnen gut aufgehoben zu sein in der Fremde, gibt es gratis. Für den Hilfsschaffner Steffen Kopetzky war es irgendwann Zeit auszusteigen. »Meine Abrechnungen begannen, ungenau zu werden.« Jede Gegenwart fällt eines Tages der Zukunft zum Opfer. Das Schöne an Romanen ist, dass man sie immer wieder lesen kann.
Silja Ukena