Er steckt im Paternoster der Bibliothek fest. Sie rettet ihn und weiß sofort, dass sie ihn lieben könnte. "Zu sagen, ich hätte mich verliebt, trifft es nicht. Mir ist das Englische lieber: to fall in love. Ich bin in die Liebe gefallen, ich bin in ihr untergegangen, bin versunken, mein Körper verschwand darin und alles, was ich gewesen war, was ich geglaubt hatte, über mich zu wissen", erinnert sich Marie an ihre erste Begegnung mit Jan.
Katharina Hartwell, Jahrgang 1984, erzählt in "Das Fremde Meer" nicht in einem Zug von dieser großen Liebe und ihrer unglaublichen Wendung. Immer wieder unterbricht sie die Geschichte von Marie und Jan, um fantasievolle, manchmal historische, oft märchenhafte Geschichten zu erzählen.
Zum Beispiel das amüsante Märchen vom in den Winterwald entführten Prinzen Julian und der von ihrem Prinzessinnenleben gelangweilten Miranda. Um Julian zu retten, wechselt sie den Beruf und wird zum Ritter Miran. Der Wandeltrank, den sie trinken muss, um den Winterwald betreten zu können, ändert ihr Geschlecht, so dass es ein Mann ist, der den verdutzten Julian wachküsst.
Sehnsucht nach der zweiten Hälfte
Die Autorin, die hier die Geschlechter und ihre Verhältnisse im Märchen umkehrt, hat nicht nur Gender Studies studiert, sie hat 2012 auch ihr Studium am Deutschen Literaturinstitut Leipzig beendet. Die Studenten im Masterstudiengang Literarisches Schreiben müssen dort statt einer wissenschaftlichen Arbeit einen Roman abgeben. Katharina Hartwell schrieb "Das Fremde Meer". Es ist ein komplexes, kraftvolles Buch geworden, das dennoch etwas von einer Abschlussarbeit hat - mit seiner starken Untergliederung und den vorangestellten Zitaten von Psychologen und Physikern, die die Aussagen einiger Geschichten unterstreichen.
In allen neun Erzählungen finden sich Elemente aus Marie und Jans Geschichte. Es gibt immer eine mutige, ungeduldige Figur, deren Vorname meist mit "M" beginnt und die fast immer weiblich ist. Die männlichen Figuren heißen "Jonas" und "Yann", "Jonathan" und "Jakob". Sie sind ängstlich und passiv. Egal ob sie sich in der Psychiatrie befinden, im Luftschiff genesen oder tagtäglich im Zirkus sterben, sie warten auf Rettung. Alle Figuren sehnen sich nach ihrer zweiten Hälfte.
Wer bis zum Ende durchhält, wird überrascht sein
Beim Beschreiben großer Gefühle besteht leicht die Gefahr, in Kitsch abzudriften. Hartwell passiert das kaum. Ernsthaft und fantasievoll schreibt sie über eine im wahrsten Sinne des Wortes übersinnliche Verbindung - unerklärlich und höchst spirituell. Für körperliches Verlangen ist auf den mehr als 500 Seiten kein Platz. Marie sagt über die Liebe: "Nichts daran ist nett, daran ist nichts Pralinen und Rosen und zuversichtliches Händchenhalten. Falls rote Herzen, dann nur solche, die zu schnell schlagen und zu laut, solche, die uns von innen her zu sprengen drohen, über deren Klopfen und Pochen wir uns selbst nicht mehr denken hören."
Der Leser muss mit der Ich-Erzählerin Marie viele Reisen unternehmen, bis es ihr möglich ist, die letzte, die erschütterndste Geschichte zu erzählen. Es wird ihm zwischendurch gehen wie dem kranken Jakob, dem die Pflegerin Milena bezeichnenderweise aus dem Buch "Das Fremde Meer und andere Geschichten" vorliest: "Er hat Schwierigkeiten zu folgen und die einzelnen Geschichten auseinanderzuhalten." Doch wer bis zum Ende durchhält, wird überrascht sein, und verstehen, warum die Erzählerin einen so langen Anlauf brauchte.