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Film "Bonne Nuit, Papa" Mein Vater, der Flüchtling

14 Jahre lang hat die in Sachsen geborene Regisseurin Marina Kem an einem Film über ihren kambodschanischen Vater gearbeitet. Eine Reise zu sich selbst quer durch Deutschland und um die Welt.
Von Frauke Hunfeld

Das Land ihres Vaters war ein Gewächshaus mit exotischen Pflanzen. Wenn Marina Kems Vater über seine Heimat sprach, dann nicht über sein Dorf, seine Schule, nicht über seine Geschwister, seine Cousins, seine Neffen und Nichten. Er nannte die Pflanzen des Regenwalds beim Namen, und er flüsterte dabei. Denn von seinen Verwandten waren die meisten tot. Sie waren Opfer geworden der Deportationen, der Morde und Umerziehungslager der Roten Khmer im Kambodscha der 70er Jahre. Einem Land, fern und unbekannt und weit weit weg.

Marina Kem und ihre Schwestern wussten nicht viel über ihren Vater. Je älter er wurde, desto schweigsamer wurde er. Niemals zeigte er ihnen Bilder, niemals sprach er über seine Eltern, die ja ihre Großeltern gewesen waren. Irgendwann hatten sie fast vergessen, dass auch ihr Vater einmal jung gewesen sein musste und auch einmal Kind. Wenn auch nicht in dem Dorf in Sachsen, in dem sie selbst aufwuchsen. Ottara Kem war der einzige Ausländer in ihrem Dorf und der einzige Kambodschaner, den sie kannten.

Übrig blieb nur der allabendliche Gute-Nacht-Gruß

Die Familie der Mutter hatte ihn freundlich aufgenommen und nannte ihn der Einfachheit halber Otto. Sie wussten nicht, dass er der jüngste von fünf Geschwistern gewesen war in einem kleinen Dorf in Kambodscha, dass er das Angeln liebte, das Schwimmen im Fluss und dass der Großvater Dorfschullehrer gewesen war, und ihn zum Lesen anhielt. Sie wussten nicht, dass er sein Dorf schon mit 14 verließ und nur einmal im Jahr nach Hause durfte, weil er, der Stolz der Familie, in der Großstadt Abitur machen sollte. Sie wussten nicht, wie sehr er die Farben vermisste, die Wärme, die Gerüche. Dass einzige, was geblieben war, war der Versuch, seinen Töchtern Französisch beizubringen, doch in der wenig fremdsprachenaffinen DDR und umgeben von deutscher Übermacht blieb nur der allabendliche Gute-Nacht-Gruß: "Bonne nuit, Papa".

Ottara Kem verließ Kambodscha 1965 als junger Mann mit einem Stipendium für ein Ingenieurstudium in der DDR. Die Großfamilie legte zusammen, um dem Klügsten und Hoffnungsvollsten die beste Ausbildung zu ermöglichen. Ihre Erwartungen, ihre Träume und ihr Vermächtnis trug er wie einen Rucksack durch sein ganzes Leben. Ein Rucksack, der mit den Jahren wohl immer schwerer wurde.

Ottara Kem machte sein Diplom mit Auszeichnung, er promovierte, er war, wie man heute sagen würde, mustergültig integriert, doch es war immer klar, dass er zurückkehren würde. Dann begann der Krieg in Kambodscha. "Warte noch", lautete die Botschaft aus der Heimat, später: "Warte noch etwas länger", schließlich: "Komm nicht zurück", und dann: nichts mehr.

Es war ein Stellvertreterkrieg der beiden Großmächte USA und Russland in Indochina, der 1975 mit der Machtübernahme der Roten Khmer endete und den Beginn eines Schreckensregimes bedeutete, das das Land zerriss und für zwei Millionen Kambodschanern den Tod bedeutete.

Allein am Meer

Ottara Kem rettete der Studienaufenthalt sein Leben, aber er war verloren und entwurzelt, und die Einsamkeit kroch in sein Herz, und in seine Gefühle. Und auch seine kleine Familie, seine drei Töchter, sein Zuhause in Sachsen konnten die Einsamkeit und die Verzweiflung und den Verlust nicht ausgleichen. Er flüchtete in sein Schweigen und auch seine Ehe zerbrach an der Stille, der Wortlosigkeit.

Erst viele Jahre später unternahm Marina Kem den Versuch, den Mann kennenzulernen, der ihr Vater war. Sie schlug ihm eine gemeinsame Reise in seine Heimat vor. 34 Jahre nach seiner Abreise betrat Ottara Kem das erste Mal wieder kambodschanischen Boden. Doch alles war anders. Die Jahre waren vergangen, die Menschen, die er liebte, waren fort, und in seiner jahrzehntelangen Sehnsucht muss er sich wohl ein Kambodscha erträumt haben, dass so nicht mehr existierte und vielleicht auch nie existiert hat. Statt jede Minute in seinem Heimatdorf auszukosten und all die Geschichten anzuhören, die er verpasst und all die Familienmitglieder zu sehen, die er nie kennengelernt hatte, fuhr er allein ans Meer.

Ein richtiges Land

Es war ein langer Weg der Annäherung zwischen Vater und Tochter, und er endete mit dem Tod. Ottara Kem wusste seit einer Krebsdiagnose, dass zum Reden nicht mehr viel Zeit bleiben würde. Und so vertraute er endlich seiner Tochter seine Erinnerungen an, seine Briefe und das einzige erhaltene Familienfoto der Famile Kem, das nur deswegen die Zeit der Roten Khmer überstanden hatte, weil Ottaras älterer Bruder es ihm einst in die DDR geschickt hatte. Nach dem Tod ihres Vaters brachte Marina dessen Asche und dieses eine Foto zurück in sein Dorf. Sie hatte ihren Vater zwar verloren, aber auch wiedergewonnen.

Das Land ihres Vaters ist für Marina Kem kein Gewächshaus mehr mit exotischen Pflanzen. Es ist ein richtiges Land geworden, das sie kennt, in dem sie Wurzeln hat und eine Familie, die sie liebt. Es war eine lange Reise, und sie nimmt uns mit, und zwar auch durch die Täler.

Das Glück, teilen zu dürfen

"Bonne Nuit, Papa" ist ein zutiefst menschlicher Film und fast bestürzt stellt man fest, wie ähnlich die Menschen sich sind: Es entsteht ein Puzzle aus Tausend Teilen, wenn in erschütternder Offenheit Überlebende des Terrorregimes der Roten Khmer berichten, Freunde aus Ottara Kems Kindheit, sächsische Arbeitskollegen, seine geschiedene Frau und seine Töchter, seine kambodschanischen Verwandten und seine wenigen deutschen Freunde über den Mann, der in die Fremde ging, über den Mann, der aus der Fremde kam, und über das, was uns alle eint: die Sehnsucht nach Heimat und Zugehörigkeit, nach Frieden und danach, dass es die Kinder einmal besser haben sollen. Dass sie Krieg und Verbrechen, Diktaturen und Not hinter sich lassen können, diese große Sehnsucht aller Eltern auf der Welt.

Für Marina Kem ist "Bonne Nuit, Papa" die Geschichte ihrer Herkunft, die Geschichte ihres Lebens. Für alle anderen ist es eine poetische Reise durch Kambodscha vor und nach den Roten Khmern, durch Ostdeutschland während und nach der DDR. Eine Reise durch eine deutsche und eine kambodschanische Familie, durch Generationen, durch Regime, eine Reise zum Kern des Menschseins. In Zeiten von Überfremdungsangst und Asyldebatten erzählt sie über die Einsamkeit des Fremden mitten unter uns und über das Glück, seine Herkunft, seine Geschichte, und seine Kultur leben und teilen zu dürfen.

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