Jedes Jahr feiert sich Hollywood bei den Oscars als Nabel der Filmwelt. Und liegt damit klar daneben. Denn gemessen am Produktionsvolumen liegt die tatsächlich größte Filmproduktionsstätte in Indien. Um genau zu sein: In Bombay. Deshalb nennt man sie auch Bollywood. Hier entstehen jährlich zirka 300 neue Streifen, die sich allesamt auf zwei Themen stürzen: die (hochmoralische) Liebe und den Kampf zwischen Gut und Böse. Und jeder Film wird von einem Happy End gekrönt. Bisher hat es kaum einer dieser Filme ins deutsche Kino geschafft. Das liegt daran, dass das Bollywood-Kino für das westliche Auge zunächst gewöhnungsbedürftig ist. Schon die Filmplakate zu diesen Epen erinnern sehr an die traditionsreichen Drei-Groschen-Romane und vermitteln einen Vorgeschmack darauf, was den Zuschauer im Kinosaal erwartet.
Wer über kein Sitzfleisch verfügt, hat verloren
Der typische Bollywood-Streifen ist ein fast bis zur Unerträglichkeit in die Länge gezogener Unterhaltungsfilm. Im Schnitt dauern die triefenden Love-Stories etwa drei Stunden. Unverhohlen brutale Gewaltszenen lösen sich mit langen erotisierten Tanzeinlagen und zahlreichen Musical-Elementen ab, in denen die Schauspieler zum Playback "singen". Das ganze findet in höchst aufwändig gestalteten, fast märchenhaften Szenerien statt, und auch an den Kostümen wird nicht gespart.
Herausforderung Leidenschaft und Liebe
Dass so viel getanzt wird, hat seinen guten Grund: Leidenschaft und Nacktszenen unterliegen im indischen Kino der Zensur, selbst Küsse sind auf der Leinwand untersagt. Da aber die Liebe zentrales Element des Bollywood-Films ist, stehen die Filmemacher vor der Herausforderung, amouröse Abenteuer zu inszenieren, die den kritischen Blicken der Zensurbehörde standhalten. Dazu eignen sich die zahlreichen Tanzszenen voller unmissverständlicher Bewegungsabläufe. Auch nasse Saris bringen den Zuschauer auf die richtige Fährte - folglich mangelt es im Bollywood-Film nicht an feuchten Quellen, um die aufwändigen Kostüme zu benetzen und die schönen Körper darunter abzuzeichnen. Aber auch Symbole vermitteln die verschiedenen Stufen der Leidenschaft: Das Spektrum reicht von tanzenden Schmetterlingen über summende Bienen bis hin zu brüllenden Tigern. Wer's jetzt noch nicht verstanden hat, der wird es wohl nie begreifen...
Bollywood auf West-Kurs
Die vergangenen Jahre bescherten dem Bollywood-Film steigende Anerkennung und wachsenden Absatz auf den Märkten im Westen, vor allem in Großbritannien und den USA. Die fast drei Stunden lange Liebesgeschichte "Devdas" (Regie: Sanjay Leela Bhansali) kam 2002 mit einer Sonderauführung bei den Filmfestspielen in Cannes zu Ehren. Auch der herausragende Regisseur Raj Kapoor wurde dort mit einer Retrospektive gewürdigt ("Aag", "Barsaat" und "Awara"). Schon im Jahr zuvor war "Lagaan" (Regie: Ashutosh Gowariker) für den Oscar nominiert worden, eine im Jahr 1893 angesiedelte Geschichte, die den Konflikt zwischen Indern und britischen Kolonialherren zeigt. Auch die Wahl der indischen Schauspielerin (und ehemaligen Miss World) Aishwarya Rai ("Devdas") in die diesjährige achtköpfige Jury in Cannes lässt sich als Verbeugung vor dem indischen Film interpretieren, immerhin steht sie hier neben Größen wie Meg Ryan und Steven Soderbergh.
Während in England ungemindert das Indien-Fieber grassiert und der Markt dementsprechend boomt, hat die indische Film-Industrie unter den Anschlägen auf das World Trade Center in New York gelitten. Produktionen und Aufnahmen in den USA wurden verschoben und so manch ein Filmemacher stürzte sich in Schulden.
Billig, aber bürokratisch
Im Ausland wirbt Bollywood mit niedrigen Produktionskosten. Bei den Filmfestspielen 2002 in Cannes betonte der indische Filmpolitiker Anjuly Chib Duggal, dass die indische Filmindustrie moderne Technik, Software und Know-how bei geringen Kosten bereit stellt. Beispielsweise kostete der opulente Film "Devdas" zirka 13 Millionen Dollar - und war damit die bislang teuerste indische Produktion. Mit einem solchen Budget lässt sich heute weder in Europa noch den USA ein vergleichbar aufwändiger Film realisieren. Dennoch schrecken ausländische Filmemacher vor Produktionen in Indien zurück. Schuld daran sind die langwierigen Genehmigungsverfahren der indischen Bürokratie. So machte beispielsweise der Regisseur Oliver Stone aus genau diesem Grund seine Drehpläne für den Historienfilm über Alexander den Großen rückgängig.
Nicht überall, wo Indien draufsteht, ist Bollywood drin
Nicht jeder in Indien produzierte bzw. Indien thematisierende Film ist ein Bollywood-Schinken. Außerhalb Bombays werden jährlich weitere 500 Filme gedreht, die sich in Inhalt und Machart vom Bollywood-Film abheben. Sie bewegen sich deutlich weniger konsequent innerhalb der Dualität von Gut und Böse und Tanz und Musik dominieren nicht das Geschehen.
Birgit Helms