63. Filmfestival von Cannes Depressionen unter Palmen

Zwischenbilanz beim Filmfestival von Cannes. Dort ist die Tristesse des Anfangs inzwischen dabei, sich zu einer waschechten Depression zu entwickeln. Aber wer sind denn nun die Besten unter den Traurigen?

Ein dünnes Scheibchen Mond hängt über der brummenden, stöckelnden, kichernden Croisette. Eine Menschentraube drängt sich an die steinerne Balustrade, um zu sehen, welche Party den Carlton Beach gegenüber von Cannes' berühmtestem Luxushotel illuminiert. Es ist der deutsche Empfang, und gerade reckt Kulturminister Bernd Neumann seine Faust gen Himmel, um den Kritikern des deutschen Kinos eine energische Abfuhr zu erteilen. Nein, er würde den deutschen Film nicht schönreden. Der deutsche Film sei eine Erfolgsgeschichte, sagt der Mann, der den Côte-d'Azur-Teint auch zuhause in Berlin pflegt. Zwar läuft kein deutscher Film im Wettbewerb, aber es wurde immerhin fleißig mitproduziert.

Ein paar aufgerüschte Mädchen kichern. Der Österreicher Michael Haneke, der dank des großen Erfolges seines Films "Das weiße Band" vielen schon als Deutscher gilt, sitzt milde lächelnd neben dem Politiker. Und ein deutscher Journalist mit zu viel Wodka im Blut sagt: "Dafür, dass die Filme so scheiße sind, ist das Festival eigentlich ganz lustig." Lustig?

"Die unerträgliche Schwere des Seins"

"Scheiße" sind sie natürlich nicht, die Filme des 63. Filmfestivals von Cannes. Aber der Satz beschreibt ganz treffend resignativ ein Gefühl, dass das wichtigste Filmfest der Welt in diesem Jahr etwas lähmt: Noch nie stand gute Laune so schlecht im Kurs. "Die unerträgliche Schwere des Seins" wäre der passende Filmtitel.

stern.de Kulturredakteurin Sophie Albers berichtet in ihrem Blog live von den 63. Filmfestspielen in Cannes

Nach den Hollywood-Fehlzündungen des Anfangs ("Robin Hood" und "Wall Street - Geld schläft nicht") zeigt sich der Wettbewerb alles andere als lebensfroh. Es wird gelitten, getrauert, gestorben, verzweifelt und geschrien: Ob der Tod eines unbekannten Sohnes in Wang Xiaoshuais "Rzhao Chongqing", das gescheiterte Leben eines Impressarios einer Burlesque-Truppe in Mathieu Amalrics "Tournée", die verzweifelte Einsamkeit in Mike Leighs "Another Year", gebrochene Herzen in Bertrand Taverniers "Die Prinzessin von Montpensier", das Alltagselend im Tschad in Mahamat-Saleh Haroun "A Crying Man", das apokalyptische Gemetzel in Takeshi Kitanos "Outrage", das sinnlose Gelaber über die Unmöglichkeit einer Beziehung in Abbas Kiarostamis "Copy Conforme" oder die zum Himmel schreiende Tragik in Alejandro Gonzalez Inarritus "Biutiful". Nein, das Leben ist nicht schön, das Leben ist - entschuldigen Sie die harten Worte, aber es ist ja ein Zitat, "scheiße". Und das Kino scheint angesichts von Wirtschaftskrisen, Globalisierung und Existenzangst genauso hilflos wie der Rest der Menschen.

Zwar schwamm in diesem Meer der Traurigkeit auch ein Woody Allen mit. Der Preis für die meisten Lacher in "You Will Meet A Tall Dark Stranger" - wie in allen Allen-Filmen - war mindestens eine Träne, die man verdrückt. Schluss mit lustig.

Häufig hilft es ja, nach vorn zu blicken, aber auch da bietet das Wettbewerbsprogramm keine rettende Insel. Wie auch, bei diesen Themen.

In den kommenden Tagen geht es vor allem um Terror und Krieg: "Of God and Men" von Xavier Beauvois erzählt von einem französischen Kloster in Algerien, vor dessen Toren der Terror nicht Halt macht. In "Fair Game" von "Mr&Mrs Smith"-Regisseur Doug Liman geht es um Massenvernichtungswaffen im Irak. Auch Ken Loach zog es in "Route Irish" in den Irak. In Rachid Boucharebs "Outside the Law" tobt der Algerienkrieg. In Nikita Mikhalkovs "The Exodus" geht es um russische Soldaten im Zweiten Weltkrieg.

Und wenn es nicht Krieg und Terror sind, dann eben die alltägliche Verzweiflung: Lee Chang-dongs "Poetry" fängt mit einer netten, älteren Dame an, die Gedichte schreibt, die dann jedoch die Hässlichkeit des Lebens erkennt. "Schastye Moe" von Sergej Loznitsa wird als Film über den brutalen Überlebenskampf in einem russischen Dorf beschrieben. In Daniele Luchettis "Our Life" wird ein kleines, glückliches Leben zerstört. Apichatpong Weerasethakul lässt in "Uncle Boonmee" die Toten sprechen. In Kornel Mundruczos "Tender Son - The Frankenstein Project" jagen die Menschen nach Erlösung - und das tut auch Charlotte Gainsbourgh in Julie Bertuccellis "The Tree".

Favorit im traurigen Cannes

Ein Eröffnungsfilm wie Disneys 3D-Animationspektakel "Oben", das im vergangenen Jahr der Auftakt zu einem funkelnden "Jetzt erst recht"-Festival war, ist im Jahr 2010 nicht vorstellbar. Die Krise mit den aberwitzigen Zahlen in den Abendnachrichten ist offenbar zu einer allgegenwärtigen Krise des Gefühls geworden. Das wird sich aber wohl erst im nächsten Festival niederschlagen, was so zu einem der spannendsten überhaupt werden wird.

Aber nun geht es ja erst einmal darum, die Gewinner dieses Filmfests zu finden. Und das überzeugendste Werk in der großen Depression war bisher Inarritus' Globalisierungs-Drama "Biutiful" mit einem - mal wieder - sterbenden Javier Bardem und einem chaotischen Realimus, den man in diesen Tagen eigentlich gar nicht sehen will. Vielleicht deshalb hat der Film oder zumindest sein Darsteller einen Preis verdient. Erwarten Sie aber bitte keinen Champagner.

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