Gott weiß, wie und warum er da reingeraten ist, aber John Travolta hat tatsächlich das Kunststück fertig gebracht, endlich mal wieder in einem guten Film mitzuspielen. "A Love Song For Bobby Long" heißt das Erstlingswerk von Shainee Gabel, das in der Nachwuchsreihe Venezia Orizonte läuft und in dem der einstige Tanzbär gut zehn Jahre nach "Pulp Fiction" äußerlich zu überraschen und mimisch zu überzeugen weiß.
Völlig verlottert, grauhaarig, dauerrauchend und -saufend gibt er in dem Independent-Drama einen ehemaligen Uni-Professor, der durch einen sexuellen Fehltritt sein geregeltes Familienleben zerstörte, nun mit einem ehemaligen Assistenten in einer heruntergekommenen Bude in New Orleans vor sich hin vegetiert und seine Gefühle hinter einer Mauer aus schlauen Schriftsteller-Zitaten verbirgt. Dann aber taucht die Tochter seiner gerade verstorbenen Lebensgefährtin auf, die den Selbstzerstörer von eigenen Gnaden aus seinem Dauer-Delirium rettet. Ein wirklich anrührendes Stück Kino, das mit seiner Herzenswärme sogar die auf Nordgrönland-Stufe eingestellte Air Condition im Vorführsaal Palagalileo vergessen machte.
"Cannes ohne Nervereien"
Besagte Tochter wird von der hinreißenden "Lost in Translation"-Entdeckung Scarlett Johansson gespielt, die ihrerseits auch in der Jury der 61. Mostra internazionale d'arte cinematografica sitzt, die feierlich - und damit sind wir beim offiziellen Teil - eröffnet worden ist. Der berühmte US-Filmkritiker Roger Ebert bezeichnete die Filmfestspiele von Venedig mal als "Cannes ohne die Nervereien", sprich: Alles läuft hier eine Kategorie entspannter ab, als beim großen Bruder an der Cote d'Azur.
In der Praxis sieht das dann so aus: Der clevere, weil bereits einen Tag vor Festival-Beginn angereiste, Journalist, möchte im Casino, dem Pressezentrum, seine Akkreditierung abholen und wird erstmal freundlich darauf hingewiesen, das jetzt gerade Pause sei und er möge doch bitte in einer halben Stunde wieder vorbeischauen. Molto bene.
Italienisch für Anfänger
Auch bei der Pressekonferenz zur Eröffnung bzw. Präsentation der Jury zelebrierten die Verantwortlichen venezianisches Laisser-faire: Die Tonanlage auf der Terrazza Martini des mondänen Excelsior Hotels bestach durch dünnes Party-Keller-Volumen, und der Conferencier plauderte munter auf Italienisch in die duftende Adria-Luft, wovon weder die zahlreichen, der Sprache nicht mächtigen Journalisten etwas hatten, noch die Jury-Mitglieder, konkret der Vorsitzende, der britische Filmemacher John Boorman, sein US-Kollege Spike Lee, der "Good Bye, Lenin!"-Regisseur Wolfgang Becker, die Schauspielerinnen Helen Mirren und Scarlett Johansson, geschweige denn der taiwanische Produzent Xu Feng.
Das Ende der romantischen Gemütlichkeit naht
Abgesehen von diesen Kleinigkeiten verströmt Venedig in der Tat die Atmosphäre eines gigantischen Klassentreffens. Noch? Festival-Padre Marco Müller hat die Vorgabe, die ältesten Filmfestspiele der Welt wieder zur Numero Uno in Europa vor Cannes und Berlin zu machen. In punkto Programm ist er da schon mal auf einem guten Weg. Doch denjenigen, die vom Excelsior, vorbei am von 60 überdimensionalen goldenen Löwen bewachten Festivalpalast, zum Casino flanieren, beschleicht das Gefühl, dass es womöglich bald passé ist mit der romantischen Gemütlichkeit. Waren es vergangenes Jahr nicht weniger Sponsoren-Zelte, die hier standen? Warum komme ich mit meinem Ausweis nicht, wie einst gewohnt, in jede Pressekonferenz? Und weshalb versperrt mir jetzt der große Pavillon eines Bierbrauers den Blick von der Casino-Treppe aufs Meer? Immerhin: Noch muss man nicht wie in Cannes seinen Akkreditierungs-Ausweis vorzeigen, um eins der großen Hotels, wo die Filmfirmen residieren, betreten zu dürfen.
Gestern noch tobte ein Gewitter über Venedig hinweg. Am heutigen Nachmittag waren die Wolken verschwunden, und die Sonne brannte auf den Lido. Einem Schmetterling war es offenbar zu heiß geworden, er flüchtete sich in den Palagalileo und flatterte während der Vorführung von "A Love Song For Bobby Long" vor der Leinwand hin und her. Aus den Zuschauerreihen war amüsiertes Kichern zu hören. Ein guter Anfang.