Toronto-Tagebuch Folterpornos sind nicht jedermanns Sache

Es ist das ultimative Kompliment für einen Horrorfilm: Bei der Vorführung des französischen Folterpornos "Martyrs" musste ein Besucher des Toronto Film Festivals kotzend den Saal verlassen. stern.de-Reporter Matthias Schmidt hat durchgehalten und verrät seine Highlights.

Toronto nervt. Wie bei jedem gutem Festival vergeht die Zeit wie im Schnelldurchlauf und am Ende steht man da mit einer langen Liste ungesehener Filme. Selbst nach 30 Filmen in zehn Tagen, hätte man gerne noch den koreanischen Spaghetti-Western "The Good, The Bad And The Weird" probiert, den kanadischen Kammerspiel-Zombiefilm "Pontypool" oder die Doku "The Biggest Chinese Restaurant In The World". Nichts für ungut, Venedig: Aber während man in der Lagunenstadt meist froh ist, den Wettbewerb ohne eingeschlafene Füße oder ähnliche Beschwerden überstanden zu haben, könnte das Toronto International Film Festival ("TIFF") ruhig noch ein paar Tage weitergehen.

Hier gibt es keine nennenswerten Preise, außer vielleicht den Publikumspreis. Den gewann völlig erwartet und berechtigt "Slumdog Millionaire". Der neue Streich des Briten Danny "Trainspotting" Boyle fußt auf einem Roman mit einer denkbar schlichten Grundidee: Unbedarfter Junge aus dem Slums von Mumbai weiß alle Antworten bei der auch in Indien extrem populären Quizshow "Wer wird Millionär?". Weil sein unbarmherziger Lebenslauf zufällig mit den Fragen korreliert. Klingt vorhersehbar, aber wie Boyle aus diesem Stoff ein farbenprächtigtes Märchen strickt, ein Kaleidoskop des modernen Indien mit all seinem Glanz und Elend, ist ganz großes Kino bis zur Bollywood-Einlage beim Abspann. Wahrscheinlich ist "Slumdog" der erste Film, der sowohl im Westen als auch im Osten des Globus für Schlangen an den Kassen sorgen wird.

Ansonsten kann hier jeder nach Gutdünken eigene Auszeichnungen vergeben. Die Lokalzeitungen beispielsweise machen sich Gedanken über den besten Titel. Gut im Rennen sind die schwarze irische Komödie "A Film With Me In It" und die US-Posse "Zack And Miri Make A Porno". Ein Name, der alles zusammenfasst, was man über den Film wissen müsse und kirchliche Gruppen könnten sich nachher nicht beschweren, in was für eine Sauerei sie da geraten sind. Heiß diskutiert auch die Rubrik "Stärkste Publikumsreaktion". Angeführt wird unter anderem der französische Folterporno "Martyrs", der in der fragwürdigen Tradition von "Saw" und "Hostel" wildert. Bei einer Mitternachtsvorstellung hat ein Zuschauer kotzend den Saal verlassen, für Fans des Genres das ultimative Kompliment.

Auch Filme mit Charlize Theron können scheitern

Da halten wir uns doch lieber an gemäßigtere Wertungen. Die "größte Enttäuschung" blieb im Prinzip aus, auch wenn viele Filme die hohen Erwartungshürden schon in der ersten Hälfte rissen. Im Südstaaten-Drama "The Loss Of The Teardrop Diamond" konnte auch eine sichtlich bemühte Bryce Dallas Howard die Untiefen des Fernsehfilmformats nicht durchwaten, Rosamunde Pilcher hätte aber ihre Freude an der unziemlichen Liebesgeschichte zwischen einer verwöhnten Erbin und einem Plantagenarbeiter. Davis Guggenheim, der zuletzt mit "An Inconvenient Truth" sich und Al Gore einen Oscar bescherte, scheitert in "It Might Get Loud" an seiner eigenen Idee. Um die Bedeutung der E-Gitarre zu dokumentieren, lädt er Jimmy Page von Led Zeppelin, The Edge von U2 und Jack White von den White Stripes zum Gipfeltreffen, verliert vor lauter nostalgischen Anekdoten aber bald den Faden. In der Ehebruch-Tragödie "The Burning Plain" schafft es Regisseur und Drehbuchschreiber Guillermo Arriaga ("21 Gramm", "Babel"), trotz Charlize Theron und Kim Basinger zu scheitern und das nicht mal auf besonders hohem Niveau. Ähnlich wie Richard Eyre ("Iris") in dem überflüssigen Liebes- und Seitensprungdrama "The Other Man" Liam Neeson, Laura Linney und Antonio Banderas ins Leere laufen lässt.

Die unbestrittenen Höhepunkte:

- Der gerade in Venedig gekürte "The Wrestler", der trotz der wenig innovativen Leidensgeschichte eines abgehalfterten Ringers, seinen Hauptdarsteller Mickey Rourke ins Oscarrennen katapultierte.

- "Rachel Getting Married", der mit den Mitteln eines Amateurvideos seinen multikulturellen Hochzeitsgästen so nah tritt, dass man mit ihnen anstoßen möchte. Und zugleich offenbarte: Anne Hathaway ist viel mehr als nur die neue Julia Roberts.

- Die Action-Ikone Kathryn Bigelow ("Strange Days") hatte lange nichts mehr von sich hören lassen, in der grandiosen Irakkriegsstudie "The Hurt Locker" inszeniert sie Bombenräumaktionen und Schießereien so körperlich, dass man selbst Angst um sein Leben bekommt.

- Und "Wendy And Lucy" belegt mal wieder, dass man mit sehr wenig Geld, einer herausragenden Schauspielerin (Michelle Williams) und einer gnadenlos realistischen Geschichte über eine junge Ausreißerin, die auf ihrem Weg nach Alaska in einer Kleinstadt strandet und um ihren Hund bangt, in 80 Minuten viel mehr anrühren kann als mit Hollywoods überlangem Überwältigungskino.

Noch ein schönen Gruß an die Kolleginnen von der "Gala": Partykönig des Jahres war Mark Ruffalo. Der 40-jährige Amerikaner präsentierte beim "TIFF" gleich drei aktuelle Filme (die Gaunerei "The Brothers Bloom" - teils originell, teils übertrieben; das apokalyptische Drama "Blindness" - gut gemacht, aber emotional albern; die Kleinkriminellen-Vita "What Doesn't Kill You" - stark gespielt, schwach geschrieben), wurde auf noch mehr Empfängen gesichtet und gab den wartenden Fans stets prächtig gelaunt Autogramme. Der Mann hat inzwischen drei Kinder, das entschuldigt einiges.

Die Herren haben die Barthaare schön

Heißer Trend bei den männlichen Promis: Viele Haare im Gesicht. Adrien Brody sah aus, als wollte er gleich mit Che Guevara eine Motorradtour unternehmen, Brad Pitt macht immer mehr auf seriöser Daddy, und bei Colin Firth und Sean Penn weiß man nie, ob der Gesichtsdschungel nicht doch nur für die nächste Rolle sprießt. Den nettesten Bartwitz machte allerdings Viggo Mortensen. Im altmodischen Western "Appaloosa" trägt er als Hilfssheriff eine skurrile Schnurr-Kinnbart-Kombination. Bei der Pressekonferenz nach der Echtheit der Haarpracht gefragt, antwortete Mortensen todernst: "Den habe ich von einer Bartstoppelfarm nördlich von Santa Fe, die haben den nur für mich angebaut und geerntet."

Nun: "TIFF 2008" ist Geschichte. Wir werden die Stadt vermissen. Die Ampeln, die an jeder größeren Kreuzung die Zeit bis zum nächsten Rotlicht herunterzählen, die schwarzen Eichhörnchen, die in Grünanlagen um Futter betteln, die billigen, aber überzeugenden chinesischen und koreanischen Restaurants und die allgegenwärtigen Anti-Raucherschilder, die das Paffen selbst draußen nur in einem Abstand von "mindestens neun Metern" zum nächste Eingang gestatten. Und wer mal im "Winter Garden" war, der obere Teil eines 95 Jahre alten Kinos, das tatsächlich wie ein Biergarten aussieht - die Säulen als Baumstämme verkleidet, die Balkone mit aufgemalten Blumenspalieren, von der Decke hängen künstlicher Efeu und bunte Laternen - der möchte nie mehr in seinem Leben ein Multiplexkino betreten. Bye-bye Toronto. We will be back.

Matthias Schmidt

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