Die glasigen Augen starr nach oben gerichtet, strähnige verschwitzte Haare kleben auf den geröteten Wangen. Das Herz schlägt schneller. Noch einmal die verlaufene Wimperntusche wegwischen. Den Teddy gezückt. Nur noch ein paar Sekunden. Springen. Zitternde Mädchenhände recken sich in die Luft. Dann ohrenbetäubendes Gekreische: "Robbiiieeeeee!" Und die Menge tobt. Ja, so war das bei Take-That-Konzerten. Früher in den Neunzigern. Als Boybands noch Massen bewegten.
Im Gegensatz zu heute. Denn 2007 sind die glorreichen Zeiten der Boybands vorbei. Jüngstes Beispiel: Lexington Bridge. Eine Casting-Band mit Startschwierigkeiten. Bereits seit März 2006 gibt es die Band um Dax, Rob, Jerome, Ephraim, Nye - fünf Jungs aus England, Amerika und den Niederlanden. Zwar wurde Lexington Bridge fleißig von Management und Produzenten gefördert, hatte Auftritte bei "Live Earth" und der Musikshow "The Dome", aber zu mehr als einer Single hat es bisher nicht gereicht. "Kick Back " stieg am 12. März 2007 auf Platz 24 in die deutschen Single-Charts ein, konnte sich aber nur zehn Wochen in den Top 100 halten. Erst letzte Woche, eineinhalb Jahre nach der Bandgründung, veröffentlichen sie ihr erstes Album - "The Vibe". Warum so spät? Das Management wollte sich dazu nicht äußern. Keine Song-Ideen? Verstehen sich die zusammengecasteten Jungs nicht gut miteinander? Konkurrenzdruck? Ursachen kann es viele geben. Fakt ist, dass sich seit den Neunzigern einiges verändert hat.
Schön, gecastet und Mainstream
Wie muss eine Band gestrickt sein, damit möglichst viele Mädels ausflippen und mit Teddybären werfen? "Eines der Hauptkriterien einer Boyband ist das Casting", sagt Nicola Vatterodt, Autorin eines Boyband-Buches. Eine Jury aus Produzenten wählt Bewerber aus und stellt sie dann möglichst medienwirksam zusammen, wie Lexington Bridge. Die Band besteht aus durchschnittlich fünf Jungs, die schön und glatt sind. Jeder der Sänger verkörpert einen individuellen Typ, der die Bedürfnisse der (zumeist) weiblichen Fans befriedigen soll, um sie dadurch emotional an die Gruppe zu binden. So beschreibt es Vatterodt. Bei Lexington Bridge gibt es den coolen Dandy mit Krawatte und polierten Schuhen, das Raubein aus den obligatorisch "schwierigen Verhältnissen" oder den süßen Jungen von nebenan, der mit Rehaugen und Wuschelhaaren vor allem die Herzen der jüngsten Mädels zum Schmelzen bringen soll.
Der Prototyp der typischen Boyband waren New Kids on the Block aus den USA. Schön, gecastet und Mainstream. Seit 1984 verkaufte die Band weltweit über 70 Millionen Platten und machte mit Merchandisingartikeln einen Milliarden-Umsatz. Sogar eine gleichnamige Trickfilmserie wurde Anfang der 90er produziert. Vier Jahre später entschied die Band, ihr Image zu ändern. Härter und cooler wollten sie werden. Doch das letzte Album "Face the music" aus dem Jahr 1994 floppte. Das Ende der Band.
Vielleicht lag das an einer neuen Boyband, die diesmal von England aus den Markt erobern sollte - Take That. Was als gewöhnliche Castingband anfing, löste eine Massenhysterie unter den weiblichen Fans aus. Gary Barlow, Jason Orange, Howard Donald, Mark Owen und Robbie Williams haben in sechs Jahren 25 Millionen Platten weltweit verkauft und stiegen zwischen 1993 und 1996 achtmal mit verschiedenen Songs von null auf Platz eins in die britischen Charts ein. Damit sind sie nach den Beatles die erfolgreichste britische Band aller Zeiten. Nachdem Robbie Williams 1995 die Band verließ, war das Ende der Teenie-Band besiegelt.
In den folgenden Jahren entstand ein wahrer Boygroup-Hype. Viele Länder hatten ihre eigene gecastete Boy-Combo. Aus Irland kam die Band Boyzone, aus Holland Caught in the Act, in den USA gründeten sich die Backstreet Boys und später 'N Sync. Auch Deutschland hatte eigene Formate wie Bed & Breakfast und Touché, die Vorgänger von Lexington Bridge. Die Backstreet Boys waren mit Abstand die erfolgreichsten. Bereits im Jahr 1999 verkauften sie über 50 Millionen Platten weltweit.
Wenn sich eine Band nicht rentiert, kommt die nächste
Heute werden Bands nicht mehr hinter den verschlossenen Toren der Plattenfirmen gecastet, sondern öffentlich im Fernsehen, in Casting-Shows wie "Popstars". Und die funktionieren gut: Jeden Donnerstag schalten knapp zwei Millionen Zuschauer bei der Sendung ein. "Deutschland sucht den Superstar" schauen sich durchschnittlich 6 Millionen an. Die Shows sind erfolgreich. Nur die Bands, die dort gecastet werden, sind es nicht. Denn im Jahr 2007 haben es Casting-Bands wie Overground oder US5, die zuletzt zum Auftakt ihre "In Control"-Tour in halbleeren Hallen spielten, schwerer. Kaum in Fernsehshows öffentlich zusammengewürfelt, landen die Bands maximal ein oder zwei Hits und verschwinden dann wieder auf dem Chart-Friedhof. Overground hatte zwar mal einen Nummer-Eins-Hit mit "Schick mir 'nen Engel" aber derzeit pausiert die Band und die Mitglieder basteln an ihrer Solokarriere. Im Klartext: das Aus der Band.
Die ekstatischen Großevents der 90er bleiben aus. Nach der Trennung von Take That verkrochen sich die weiblichen Teenager scharenweise mit verheulten Augen in ihrer Robbie-Wlliams-Bettwäsche. Heute juckt die Auflösung einer Boyband nur noch wenige. Zu austauschbar, zu massentauglich sind die Casting-Produkte. Format ist anders. "Da wird eine Band nach der anderen auf den Markt geworfen und wenn sich die eine nicht rentiert, kommt die nächste", sagt Boygroup-Expertin Vatterodt. Dabei bleibt die musikalische Individualität oft auf der Strecke. Masse gleich Klasse heißt die Devise.
Das Album
"The Vibe" von Lexington Bridge ist am 23. November bei Universal Music erschienen.
Masse - bei Lexington Bridge heißt das "Vielfalt". Sie wollen es jedem Recht machen. Genau da liegt das Problem der Band. Denn was ehemals funktionierte - der Mainstream - ist heute nicht mehr gefragt. "Vielleicht geht der Trend heute wieder zu selbstgemachter Musik", mutmaßt Nicola Vatterodt. "Indie" ist in. Internetportale wie Myspace sind voll von Bands, die Musik selbst machen und wirklich echte Instrumente spielen. Bands, die sogar völlig playbackfrei auf der Bühne bestehen können. Man denke an die Schweden-Rocker Mando Diao oder, für die Jüngeren, an Tokio Hotel.
Ein klares Klangkonzept gibt es nicht
Doch nicht nur der Geschmack der Fans hat sich gewandelt. Auch sie selbst haben sich verändert. Untreu sind sie geworden. Bettina Fritzsche, Buchautorin die sich mit der Fan-Kultur beschäftigt hat, sieht das so: "Im Gegensatz zu den Take-That-Fans wissen heute viele, dass die Bands voraussichtlich nicht lange zusammenbleiben werden. Die Mädchen, die ich interviewt habe, planten aber auch nicht für immer Fan zu bleiben und sagten 'mit 20 noch Fan sein ist peinlich'" Die Halbwertszeit der Casting-Bands ist geringer als früher.
Und trotzdem versuchen es die Plattenbosse wieder mit einer Boyband, gerade zu Krisenzeiten der Plattenbranche. Geld bringen sie ja. Zumindest für kurze Zeit. Lexington Bridge möchten einfach alles unter einen Hut bringen. Brücken zwischen "Ländern, Kulturen, Styles und musikalischen Elementen wie Pop, HipHop, R&B und Dance" wollen sie schlagen. Das sagen sie über sich selbst. Ein klares Klangkonzept gibt es nicht. Und das Album ist tatsächlich ein Querschnitt durch die Pop-Charts. Gefühlvolle Balladen und eingängiger R'n'B im Schmusesound wechseln sich ab mit provokantem Hip Hop. So singen die fünf Jungs Texte, die den Mädels unmissverständlich ans Herz legen, sich statt einem "boyfriend" lieber einen "real man" für das Wochenende zu suchen. Ein bisschen Drum'n'Bass und Elektro vermischt mit spanischen Gitarren. Tanzbares für Diskos, in denen Jungs in zu weiten Hosen Mädels in weißen Stiefeln mit dem frisch erworbenen Führerschein beeindrucken können.
Austauschbarer Pop war mal
Am Album "The Vibe" haben Produzenten und Songwriter mitgewirkt, die schon Popgrößen wie Christina Aguilera, Usher, Pink und Jennifer Lopez in die Charts gehoben haben. Und da ist sie wieder, die Vielfalt: Pop, R'n'B, Rock und sogar Latino. Massentauglicher geht's nimmer. "Unser Sound soll die Leute in Bewegung bringen, sie mitreißen und ihnen nicht mehr aus dem Kopf gehen! Moderner Pop, der dich nicht mehr loslässt", sagen Lexington Bridge selbst über ihr Album.
Die Jugend-Zeitschrift "Bravo" hat die Band unter ihre Fittiche genommen und räumt ihnen deshalb natürlich große Erfolgschancen ein. "Die Jungs sind sehr talentiert. Tolle Choreographie", sagt der stellvertretende Chefredakteur Alexander Gernandt. Begeistern wird die Band ihre Fans also mit Sicherheit. Nur für wie lange? Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Fans gelangweilt sind und sich Idole suchen. Echte Musiker, mit echten Instrumenten. Austauschbarer Pop war mal - früher in den Neunzigern.