So ganz konnte ich es nicht glauben, dass es tatsächlich wieder losgeht. Nach zwei Jahren Pandemie-Pause finden in ganz Deutschland wieder Festivals statt. Ohne Beschränkungen, ohne Masken – "eigentlich verrückt", dachte ich, als ich im Auto saß. Donnerstag, 7.30 Uhr, die erste Dose Bier in der Hand.
Viel war in den vergangenen Jahren über Musikveranstaltungen gesprochen und geschrieben worden. "Pandemietreiber" hörte man dann oft, oder "Superspreader-Event". Im Sommer 2022 wirkt all das plötzlich sehr weit weg, trotz mal wieder steigender Inzidenzen. Aber vielleicht muss man einfach ein gewisses Risiko eingehen. Also Tasche gepackt, Zelt auf den Rücken und auf die Autobahn. Fast ein Jahrzehnt war ich Stammgast bei Rock am Ring in der Eifel. Doch als das größte Festival in Deutschland Anfang Juni stattfand, war mir die Corona-Lage, gemischt mit einem für meinen Geschmack nicht ganz überzeugenden Line-Up der Bands keine wirkliche Alternative. Dieses Jahr also das Deichbrand-Festival: Cuxhaven, 60.000 Menschen, Wetterprognose irgendwo zwischen November Rain und Vamos a la Playa – die typischen Festival-Bedingungen haben sich also nicht geändert. Wenn in Deutschland irgendwo eine Outdoor-Bühne aufgebaut wird, muss es früher oder später regnen – ungeschriebenes Gesetz.
Deichbrand Festival 2022: Strömender Regen beim Aufbau – und ein Lächeln im Gesicht
Das Wetter hält, was es versprach. Kaum angekommen setzte der Regen ein. Und so mancher sah beim Schleppen des Gepäcks aus, als würden sich ein paar Freudentränen zu den Regentropfen gesellen. Drei Jahre war es nun her, dass ich am Vormittag auf einer Wiese mitten im Nirgendwo stand, um mich herum bereits ein paar Zelte, und vereinzelte Versuche, Grillkohle trotz des Regens anzubekommen. Ein Vergleich in Richtung "nach Hause kommen" erspare ich allen Beteiligten an dieser Stelle. Zu viel Kitsch muss auch nicht sein, wir sprechen schließlich immer noch über ein Festival. Und das bedeutet wenig Schlaf, viel Dreck und noch mehr hopfenhaltige Getränke, die den Blick auf die schmutzigen Klamotten so wunderbar vernebeln.
Es dauert an diesem ersten Tag nicht lange, bis ich merke, was genau ich in den vergangenen Jahren vermisst habe: Nicht nur die Trash-Musik auf dem Campingplatz oder die Konzerte. Festival, das sind vier Tage Anarchie. Vier Tage Abschied von gesellschaftlichen Normen. Vier Tage auf unbequemen Stühlen sitzen und sich nicht daran stören. Vier Tage voller Begegnungen mit Menschen, mit denen man für zwei Bierlängen beste Freunde wird, um sie anschließend nie wieder zu sehen. Vier Tage voller Dummheiten, die sich im Nachhinein als richtig gute Ideen herausstellen – oder auch andersherum.
1000 Gespräche, die nicht geführt werden müssen, weil es wirklich niemanden interessiert, was man arbeitet oder was genau man eigentlich zur Gas-Krise denkt. Solange der Nachbar von gegenüber das gleiche Band-Shirt trägt, wie man selbst und einen Mittelfinger für Rassismus, Faschismus und Homophobie übrig hat, ist alles klar. Wunderbare Oberflächlichkeit.
Die Corona-Pandemie plötzlich ganz weit weg
Und so vergehen die Tage schneller, als man Dosenbier sagen kann. Und immer wieder ertappt man sich bei dem Gedanken, dass es sich noch nicht ganz richtig anfühlt, mit zehntausenden Menschen unter fragwürdigen hygienischen Bedingungen auf engstem Raum zu leben und zu feiern. Die Corona-Pandemie wirkt wie ein Fiebertraum. Das Einzige, das noch daran erinnert, ist eine festgetretene Maske auf dem staubigen Boden. Man vertraut auf seinen Infektionsschutzengel.
Roskilde 2022 – so schön und entspannt war es beim 50. Jubiläum des Festival-Klassikers

Eigentlich absurd, wenn man hört, dass es sowohl nach Rock am Ring als auch nach dem Hurricane Festival reihenweise Coronafälle gab. Und so hat es ein Geschmäckle, als meine Stimme ab Samstag in strammem Tempo ihren Geist aufgibt. Zugegebener Maßen ist es nicht das erste Mal, dass das passiert. Aber in diesem Jahr schwebt das verhasste "C" dann doch über dem, was ich all die Jahre als "Festivalschnupfen" bezeichnet und mit dem ich zu 100 Prozent nach einem solchen Wochenende gerechnet habe.
Seitdem sitze ich zuhause und trinke ungefähr so viel Tee, wie in Cuxhaven Bier und starre immer wieder gespannt, ob man auf dem kleinen weißen Plastikstück nicht doch ein zweiter Strich zu erkennen ist. Bisher aber bleibt alles weiß. Doch allein die Ungewissheit erinnert dann doch eindringlich daran: So ganz normal ist diese Zeit noch nicht.