Wenn in den Kirchen und Domen unseres Landes die Weihnachtslieder längst verklungen sind, ist im sachsen-anhaltischen Halberstadt weiter das Konzert "As slow as possible" (So langsam wie möglich) des amerikanischen Komponisten John Cage zu hören. Erst in mehr als 630 Jahren werden die letzten Akkorde verstummen. Damit wird in der Vorharzstadt das langsamste Konzert aller Zeiten und zugleich auch das längste Konzert der Weltgeschichte aufgeführt.
Interdisziplinäre Idee
Die Idee für das ungewöhnliche Kunstwerk hatten Organisten, Musikwissenschaftler, Theologen und Philosophen auf einem Orgel-Symposium 1997 im baden-württembergischen Trossingen, wie Georg Bandarau vom Vorstand der inzwischen gegründeten John Cage Orgel Stiftung berichtet. Das Stück, das der amerikanische Avantgardist zunächst für das Klavier und später für die Orgel auf vier Seiten notiert hatte, stand im Mittelpunkt.
Dabei vertrat unter anderem der schwedische Organist Hans Ola Ericsson die Ansicht, "So langsam wie möglich" werde von der Physik begrenzt, auf dem Klavier durch das Anschlagen und Verklingen der Töne. Doch Orgeltöne verklingen nicht, so lange die Bälge getreten werden. So kamen er und die anderen Experten zu dem Schluss, "So langsam wie möglich" bedeute so lange, wie die Lebensdauer einer Orgel ist und so lange, wie es Frieden und Kreativität in künftigen Generationen gibt.
Aus der Fachsimpelei wurde ein konkretes Projekt. Der Berliner Komponist Jacob Ullmann begab sich auf die Suche nach einem geeigneten Raum und fand in Halberstadt die inzwischen leer stehende Buchardikirche, die um 1050 gebaut wurde, über 600 Jahre als Zisterzienserkirche und zuletzt als Schnapsbrennerei und Schweinestall diente. Mit Unterstützung der Stadt und privater Hilfe wurde der romanische Bau gereinigt, durch ein neues Dach vor Regen geschützt, Fenster wurden eingesetzt, und die Kirche wurde in der Substanz gesichert.
Das inzwischen international viel beachtete und diskutierte Projekt kam zugleich an die Wurzel der Orgel zurück. In Halberstadt wurde 1361 die erste Großorgel der Welt, eine Blockwerksorgel, gebaut. Sie stand im Dom, hatte zum ersten Mal eine 12-tönige Klaviatur und ist damit Vorgänger für Klavier und Orgel. "Die Wiege der modernen Musik steht damit in Halberstadt", erklärt Georg Bandarau.
Er verweist zudem darauf, dass das Orgel-Geburtsjahr auch die Zeitspanne von "As slow as possible" vorgibt: 1361 bis zum Jahrtausendwechsel 2000 bedeutet eine Achse von 639 Jahren.
Klang der Stille
Die Partitur des Werkes wurde gewissermaßen auf die 639 Jahre umgelegt. Am 5. September 2001, zum 89. Geburtstag von John Cage, begann das Stück. Allerdings war zunächst nichts zu hören, denn der Komponist hatte an den Beginn seiner Partitur eine Pause gesetzt, die bis zum 5. Februar 2003 dauerte. Dann erklangen als erstes für eineinhalb Jahre die drei Töne gis - h - gis, bevor der vollständige Dreiklang zu Stande kam, der jetzt zu hören ist. "Während einige Töne nach wenigen Jahren wechseln, bleiben gleichzeitig andere über Jahrzehnte liegen", berichtet Georg Bandarau.
Den derzeitigen Dreiklang erzeugen sechs Orgelpfeifen in einer kleinen Orgel, die mit der Aufführung entsprechend wachsen soll, eben "so langsam wie möglich". An die bislang drei Tasten der Klaviatur wurden kleine mit Sand gefüllte Säckchen gehängt, die den jeweiligen Ton auf Dauer sichern. Der große Blasebalg wird mit Strom betrieben.
Entworfen und gebaut wird das Instrument in der Kevelaerer Orgelbauwerkstätte Romanus E. Seifert & Sohn mit Unterstützung der Firma Reinhard Hüfken-Orgelbau aus Halberstadt. Bis zu ihrer endgültigen Fertigstellung soll die Orgel 200.000 Euro kosten.
"Utopie des Optimismus"
Für die Finanzierung sorgen auch jene Enthusiasten, die sich für das Konzert jeweils ein Klangjahr zwischen 2000 und 2639 reservieren lassen und dafür 1.000 Euro zahlen. Gut 40 Jahre sind bereits verkauft, wie die kleinen Metalltafeln verkünden, die an den Kirchenwänden hängen und mit Texten nach Wahl der Sponsoren versehen sind.
Mit dem kühnen John-Cage-Orgel-Projekt hat Halberstadt schon jetzt Tausende Besucher angezogen, unter ihnen Alexander Kluge, Jens Reich und Uwe Ochsenknecht. Briefe, E-Mails und Kontakte reichen in viele Länder, vor allem aber in die USA, der Heimat des 1992 verstorbenen John Cage. Kulturstaatsministerin Christina Weiss bezeichnete die Aufführung als "Utopie des Optimismus", den "wir in der Tat gut gebrauchen" können.