Herr Schätzing, Sie waren zwölf, als Sie in einem Kölner Klassenzimmer zum ersten Mal David Bowie hörten. Erinnern Sie sich an diesen Moment?
Unser Musiklehrer legte "Space Oddity" auf. Er verlor kein Wort dazu, wer dieser Sänger war, setzte nur die Nadel auf die Platte. Ich sah dieses blasse Gesicht auf dem Cover, hörte diese Stimme – und plötzlich war ich woanders. Erblickte Raumschiffe, Galaxien. Da waren Universen in mir, von denen ich keine Ahnung gehabt hatte. Bowie verschaffte mir den Zugang.
Sie haben sich als Kind oft "fehl am Platz" gefühlt.
Als Teenager. Meine Kindheit war toll, die Zeit danach – na ja. Ich war kein Draufgänger, eher ein Träumer. Mädchen weinten sich bei mir über ihre Typen aus, mit der schönen Begründung: "Weil du nichts von einem willst." Besten Dank! Ich war ihr Seelsorger, nicht ihr Schwarm. Ich lebte in meiner Fantasie, die war mein Rückzugsort. Wo mit der Zeit dann manches reifte, wovon ich dachte: Das würde auch anderen gefallen.
Wann haben Sie zum ersten Mal gewagt, das zu zeigen?
Mit sechzehn. Ich hatte eine Band, wir spielten Prog. Gar nicht so übel. Nur war ich wahnsinnig schüchtern, und plötzlich hatten wir einen Riesen-Gig. Beim Gedanken daran starb ich tausend Tode. Was, wenn sie dich auslachen? Also schminkte ich mich, inspiriert von Bowies Aladdin Sane. Ging auf die Bühne und stellte verblüfft fest: Jetzt bist du endlich du selbst! Die Schminke war keine Verkleidung! Der Junge im Parka, in dessen Haut ich mich fremd fühlte – der war die Verkleidung. Eine Maske kann authentischer sein als ein nacktes Gesicht. Sie erlaubt dir zu zeigen, was du immer versteckt hast.
Aus dem stillen Jungen wurde also allmählich der selbstbewusste Schätzing. Ging das so leicht?
Nein. Ich war nicht von Natur aus selbstbewusst. Ich habe mir das erarbeitet – auf der Bühne, im Job, beim Schreiben, im Leben. Bis ich 20 war, habe ich mein Selbstbewusstsein vorgespielt, dann wurde es langsam in mir heimisch.
Sie wollten immer Künstler sein, landeten nach dem Studium aber erst einmal in der Werbung. Wie passt das zusammen?
Werbeagenturen waren Orte, an denen Fantasie ordentlich bezahlt wurde. Ich hatte zehn Jahre lang Musik gemacht. War zweimal hart am Plattenvertrag vorbeigeschrammt, aber vorbei ist vorbei. Ich musste Geld verdienen, wollte gestalten, erzählen, experimentieren – die Agenturen ermöglichten mir das.
Die Achtziger galten als goldene Ära der Werbung – laut, exzessiv, größenwahnsinnig. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?
Als permanenten Adrenalinschub. Alles wurde rauschhaft gefeiert. Gekifft, gekokst, gebechert, das war kein Mythos. Ein schlafloser, irre arbeitsintensiver Spaß, nur von den Drogen habe ich die Finger gelassen. Ich sah, wie das Dope Menschen um mich herum in sabberndes Gemüse verwandelte. Mich interessierte der andere Rausch: das Zünden einer Idee! Etwas aus dem Nichts zu erschaffen. Meine Droge war die Fantasie.
Sie wollten aber mehr sein als ein Werber. Sie hatten mit 40 bereits fünf Romane veröffentlicht, aber der ganze große Wurf war noch nicht dabei. Zweifelten Sie damals daran?
Ich hatte wenig Zeit, mir über Romanerfolge Gedanken zu machen. Mein Partner und ich hatten uns den Traum einer eigenen Agentur erfüllt, die forderte alles.
Gab es Momente, in denen Sie dachten, der Traum platzt?
Wissen Sie, ich habe eine Prämisse: Hoffe auf alles und erwarte nichts. Um hoffen zu dürfen, musst du allerdings was wagen. Dich über Grenzen treiben. Zeitweise rangierten wir unter den größten Agenturen Deutschlands. Dann der Absturz. Und wieder rauf. In manchen Nächten dachte ich: Es reicht. Immer sagte meine innere Stimme: Mach weiter! Eine Wette gegen die eigene Ernüchterung. Ich wusste, dass ich in der Werbung nicht alt werden würde.
Mit 46 schrieben Sie an einem neuen Buch, das Ihr Leben grundlegend verändern sollte.
Den Plot hatte ich geträumt: Das Meer erhebt sich gegen den Menschen. Es war klar, ich muss dieses Buch schreiben! Was ich dann auch tat: tagsüber Agentur, die Nächte am Laptop, anderthalb Jahre lang. Volles Risiko. Hätte floppen können – lucky me: Es wurde mein Befreiungsschlag.
"Der Schwarm" machte Sie mit 46 weltberühmt. Das Buch verkaufte sich über fünf Millionen Mal und wurde in 27 Sprachen übersetzt.
Ja, völlig irreal. Dieser Hype. Jeder wollte plötzlich was von mir, ein Marathon an Auftritten. Klar war ich stolz und glücklich, andererseits konnte ich es kaum genießen, weil ich immer dachte: Wie sollst du das je toppen?
Im Dezember 2004, nur wenige Monate nach dem Erscheinen Ihres Buches, traf ein Tsunami Südostasien – und plötzlich standen Sie noch mehr im Fokus, weil Sie in "Der Schwarm" eine solche, damals wenig bekannte Naturkatastrophe beschrieben hatten.
Und wieder wollten alle Interviews. Ich sei ein Prophet, ich hätte die Katastrophe vorausgesehen. Quatsch! Ich war recherchebedingt zum Tsunami-Experte geworden. Diesmal lehnte ich alle Anfragen ab. Ein zweiter Hype auf Kosten all der Toter wäre mir zynisch vorgekommen! Und zog mich zurück.
Das war schwierig. Denn "Der Schwarm" hat wortwörtlich Leben gerettet.
Tatsächlich, ja. An diesem Unglückstag 2004 beobachtete ein 14-jähriger Junge im Urlaub auf Sri Lanka, wie sich das Meer plötzlich weit zurückzog –er hatte den "Schwarm" gelesen und wusste, da kommt eine Riesenwelle. Also rannte er los, warnte seine Familie, sie entkamen. Und fanden sich in Reinhold Beckmanns Talkshow wieder, der mich anrief: Hör mal, sie würden dich gerne treffen, kommst du? Wie hätte ich Nein sagen können? Danach schrieben mir Dutzende Menschen, "Der Schwarm" habe ihr Leben gerettet. Ein Pärchen traf ich auf Sylt. "Ohne dich wären wir tot", sagten sie. Ich spielte es runter: "Ihr hättet auch so überlebt." Sie umarmten mich: "Nein. Wir wären tot." Geschichten können viel bewirken, aber das hier war Glück, nicht mein Verdienst. Ich war tief bewegt und komplett überfordert.
Wann haben Sie gemerkt, dass es zu viel wurde?
Als der Hype nachließ. Nach außen funktionierte ich perfekt. Ich war charmant, präsent, das Publikum bekam den Schätzing, den es kannte. Nur war es jetzt, als sähe ich jemandem zu, der mich spielt. Niemand merkte, wie ich abglitt, nicht mal meine Eltern.
Waren Sie depressiv?
Nein, ausgebrannt. Burn-out! Leer und gefühllos. Bis auf den Schrecken. Diese plötzliche Stille und Leere in mir schockierten mich, aber ich wollte nicht, dass es öffentlich wird. Es war allein meine Sache. Heute spreche ich darüber, weil es anderen vielleicht Mut macht, die sich ähnlich fühlen.
Wie sind Sie da wieder herausgekommen?
Mithilfe eines Coachs. Der sich vorstellte als Fremdenführer durch die Landschaft meiner Seele. Cool, dachte ich! Er lehrte mich, meine Gedanken zu beobachten, statt mich mit ihnen zu identifizieren. Nichts Religiöses oder Esoterisches. Achtsamkeit. Ich fand zurück zu mir, und die Stille wurde zum Genuss.
Was haben Sie in dieser Stille entdeckt?
Gelassenheit. Stille ist ist kein Nichts, sondern ein Zustand. Der Zustand reinen Seins. Im Hintergrund läuft das Gedankenradio. Dinge kommen und gehen, alles zieht vorbei. Du bist eins mit der Welt, die Welt ist eins mit dir, die Grenzen sind aufgehoben. Und in der Stille klingt dann Neues auf.
Gab es etwas, was Sie aus dieser Lebenskrise mitgenommen haben?
Dass Kontrolle eine Illusion ist. Ich hatte geglaubt, alles im Griff zu haben: Arbeit, Erfolg, mein Leben. Aber das Leben lässt sich nicht führen wie eine Agentur. Ich habe gelernt, das Steuer loszulassen, und das war der Beginn einer neuen Freiheit. Die beste Richtung ist die, in die man sich treiben lässt.
Sie gelten als Fortschrittsoptimist. Trotzdem suchen Sie den Austausch mit Menschen, die dieses Vertrauen verloren haben – zum Beispiel mit Peter Thiel, einem der einflussreichsten, zugleich öffentlichkeitsscheuen Tech-Milliardäre der Welt. Wie kam es zu dem Treffen?
Das war 2018 im Silicon Valley, wo ich für meinen Roman "Die Tyrannei des Schmetterlings" recherchierte. Der Termin kam über Kontakte zustande, ein mehrstündiges Mittagessen in Thiels Headquarter. Er war zugewandt, freundlich, erstaunlich offen. Und er blieb mir keine Antwort schuldig.
Thiel gilt als einer der einflussreichsten Strategen hinter Donald Trump und J. D. Vance. Er hat die politischen Karrieren beider von Anfang an mit Millionen unterstützt. Halten Sie ihn für gefährlicher als Elon Musk?
Ich halte ihn vor allem für intelligenter. Peter agiert im Hintergrund – ein Einflüsterer, der von Obama enttäuscht war und sich zum Rechtslibertären entwickelt hat. Er finanziert Politiker, die seinen Ideen den Boden bereiten, ohne diese wirklich zu kapieren. Leute wie Vance und Trump sind im Grunde Thiels nützliche Idioten. Die eigentliche Gefahr liegt darin, dass immer mehr Macht, Geld und Technologie sich bei einer Elite bündeln, die größere Vermögen locker machen kann als die meisten Volkswirtschaften.
Und gleichzeitig halten Sie Thiel aber auch für einen brillanten Denker.
Er ist brillant! Studierter Philosoph, was ihn umso gefährlicher macht. Er glaubt, die Menschheit sei nur durch Technologie zu retten. Demokratie ist ihm zu langsam, Empathie hinderlich, multilaterale Bündnisse gehören überwunden: UN, Nato, Wokeness – für ihn der Versuch der Liberalen, die Menschheit ihrem Diktat zu unterwerfen. Peter sieht sich tatsächlich als Weltenretter, der Armageddon aufhält. Klingt wirr, ist aber erschreckend durchdacht. Manche seiner Argumente wirken verführerisch. Aber sein Konzept krankt an der Mitleidlosigkeit der Stärkeren gegenüber den Schwächeren. Eine eisige Welt. Fortschritt braucht Ethik, sonst verkommt er zur Hybris.
Auch David Bowie stellte Sie mal auf die Probe. In den Siebzigern schwärmte er vom Faschismus, nannte Hitler den ersten Rockstar, zeigte sich im Gestapo-Look. Warum hat das Ihre Bewunderung nicht nachhaltig erschüttert?
Weil er sich schnell und glaubhaft davon distanzierte. Er war damals ein Junkie, wog 45 Kilo, ernährte sich ausschließlich von Milch, Paprika und Koks und hatte diese böse Kunstfigur erfunden, den Thin White Duke, den er schlimme Dinge sagen ließ. Dahinter steckte keine Haltung, sondern drogeninduzierte Wirrnis. Bowie war ein Mensch voller Abgründe, aber auch voller Selbstkritik. Ganz anders als solche Typen, die sich in ihrem Bullshit einnisten wie der Rapper Kanye West, der bis heute seine antisemitischen Ausfälle nicht zurücknimmt. Wir alle machen Fehler. Perfektion ist eine Illusion. Wir sind die Summe unserer Irrtümer und der Lehren, die wir daraus ziehen.
Ein Treffen zwischen Ihnen und Bowie war angedacht – und dann starb er im Januar 2016. Was haben Sie gefühlt?
Trauer. Ich hatte ja das Gefühl, ihm längst begegnet zu sein – in der Arbeit, im Schreiben. Da war ein inneres Verständnis, das Gefühl einer Seelenverwandtschaft. Ich habe nun wirklich nicht mein Leben nach David Bowie ausgerichtet. Dennoch fühlte ich mich seiner Kunst, seiner Weltsicht immer nah. Ein begnadeter Avantgardist, ein Genie, ein risikofreudiger, kompromissloser Jahrhundertkünstler. Den Teenager, der ich war, hat er gerettet. Als er starb, ging etwas zu Ende. Meine eigene Endlichkeit stand mir vor Augen.
Sie sind jetzt 68 Jahre alt. Was steht noch aus?
Was kommt. Ich halte nichts von der Idee, etwas müsse "vollendet" werden. Leben ist Bewegung, nicht Bilanz. Ich bleibe neugierig.
Und wenn Sie zurückblicken – was bleibt?
Staunen. Dankbarkeit, dass ich noch da bin. Dass ich meine Geschichten erzählen, auftreten, Musik machen, das Leben mit meiner wunderbaren Frau genießen kann. Ich feiere freudig jeden Geburtstag! Nicht, dass ich älter werde. Dass ich schon so lange auf der Party sein darf.