Vorab: Ich bin weder hartherzig noch zynisch. Au contraire: Ich liebe das Leben und seine berührenden Geschichten. Ich bin das, was man guten Gewissens als kitschaffin bezeichnen kann.
Doch das Konzept "viel Gefühl, viel Viralität" nagt momentan an meinen Nerven wie ein knuffiger Hamster im Batmankostüm. Und ja, mir ist durchaus bewusst, dass wir bei stern.de auch über diese menschliche Geschichten aus dem Netz berichten. Das ist wundervoll, ich mag das. Denn die Welt ist eben nicht nur kalt, kapitalistisch, kriegerisch. Ich weiß ein heimlich vorm Computerbildschirm im Großraumbüro verdrücktes Sentimentalitäts-Tränchen zu schätzen. In Maßen.
Aber jetzt habe ich persönlich eine Überdosis.
Denn erst durchdringt eine rührende Story (gern mit Katze und Kind) auf mannigfaltige Weise das Internet, dann folgen ihr etliche Spin-Offs. Aus meiner Facebook- und Twitter-Timeline schwappen mir zeitnah gefühlte 27.835 Mal die gleichen Geschichten in Minimal-Variation entgegen.
Beispiele gefällig?
• Ein Hund lernt mit Gehhilfe laufen? Süß. Aber guckt: Hier ist ein Hund mit noch weniger Beinen, der auch laufen lernt. Ohne Hilfe und sogar am Meer!
• Ein kleines Kind im Superheldenkostüm? Putzig. Hier ist ein kleineres Kind mit Laserschwert, das Regale zerdeppert, im Boden verschwindet und durch die Luft fliegt!
• Ein getanzter Flashmob-Heiratsantrag? Bezaubernd. Hier ist ein noch getanzterer Heiratsantrag - mehr Performance, es wird sogar gesungen und irgendwer weint!
• Jemand zahlt einer armen Kellnerin ein oligarchenwürdiges Trinkgeld? Großzügig. Hier ist eine noch viel ärmere Kellnerin, die sich von ihrem Trinkgeld jetzt sogar die Krim kaufen könnte, es aber nicht tut, sondern alles für obdachlose Baby-Otter ausgibt. Hach? Ach!
Ich kann es nicht mehr lesen.
Skurrile Dachbodenfunde, Solidaritätsaktionen, kitschige Kunstprojekte, offene Antwort-aufs-Outing-Briefe, von Vätern entworfene Lebenshilfe-Lunchbox-Einlagen, erste oder letzte Male - immer und immer wieder. Wieso treten diese Geschichten so oft gehäuft auf? Mich beschleicht der Gedanke, dass das kein Zufall ist Natürlich nicht. Denn emotionale, positive Stories verteilen sich im Netz, das Kernkonzept von Upworthy & Co.
Aber warum so viel auf einmal - blubbern diese Geschichten aus den Untiefen des Netzes an die Oberfläche, weil just in diesem Moment vermehrt danach gesucht wird? Oder werden sie möglicherweise gar erst konstruiert, weil die Nachfrage so groß und Viralität so wichtig ist? Anders gefragt: Was war zuerst da - die Story oder der Hype?
Ich muss mich wohl damit abfinden, dass es in den meisten Fällen darauf keine Antwort gibt. Und das ist okay; ich habe mich ja schließlich auch irgendwann damit abgefunden, dass Kekse nicht auf Bäumen wachsen und nicht ohne Hose im Büro erscheinen kann.
Ganz selten allerdings gelingt es, aus einer viralen Story etwas halbwegs Lustiges entstehen zu lassen. "First Kiss" ist für mich so ein Beispiel. Angeblich Fremde küssen sich in einem Video angeblich zum ersten Mal. Stimmt natürlich nicht - Ha! Reingefallen! - es waren Models und Schauspieler und das Ganze sowieso auch Werbung. Aber da war es schon millionenfach geteilt und damit zu spät für all die vorm Rechner vollgeschneuzten Taschentücher. Doch dann machten sich Trittbrettfahrer ans Werk und schufen ausnahmsweise ulkige Parodien und kluge Weiterdrehs, wie zum Beispiel hier oder hier.
Ich wünschte, Sie könnten mich jetzt seufzen hören. Denn da das Internet nun mal stärker ist als ich, gebe ich mich geschlagen; ich werde weiter mit kitschigen Geschichten zu tun haben. Sie lesen und schreiben. Und im Büro weiterhin eine Hose anziehen.
Beides nicht ganz freiwillig.