Neulich habe ich meinen Kleiderschrank geöffnet, stand einen Moment davor – und hatte das Gefühl, all die Sachen darin sind nicht ein, zwei oder drei Jahre alt, sondern mindestens zwanzig. Es kam mir ewig her vor, dass ich irgendwas davon draußen getragen hätte. Naja, stimmt irgendwie ja auch, in den vergangenen Monaten war "draußen" ja fast ausschließlich der Weg zum nächsten Supermarkt, und den schafft man auch in Jogginghose. Aber jetzt, wo die Coronazahlen zum Glück so niedrig, die Temperaturen so hoch sind und die Außengastro geöffnet ist, möchte ich endlich mal wieder wie ein Mensch aussehen. Aber wie zur Hölle sehen Menschen aus?
Neulich, als ich mit ein paar Freunden in einem Biergarten saß, war dort auch eine Gruppe sehr junger Leute. Ein Mädchen trug leger ein orangefarbenes Abendkleid aus Satin – und ich habe vollkommen verstanden, warum. Monatelang gab es keinen Grund und keine Gelegenheit, sich aufzubrezeln. Es reichte, für die Videokonferenzen einen sauberen Pulli anzuhaben. Bequem, aber freudlos. Jedes kleine "Event", das sich nun bietet, auch wenn es nur ein Abhängen im Biergarten ist, ist somit endlich mal wieder ein Grund, modisch etwas zu wagen.
Man trifft sich wieder draußen
Aber was hat der Trend gemacht, während wir alle auf der Couch saßen? In welche Richtung ist er gelaufen? Sind Skinny Jeans jetzt definitiv total vorbei? Sind Schlaghosen jetzt definitiv wieder da? Oder machen wir vorher noch den Umweg von den Karottenhosen über die HipHop-Baggypants und Synthetik-Stretchhosen? Bei einem Spaziergang im Park habe ich kürzlich jedenfalls alle Varianten gesehen, sogar eine junge Frau, die den schon 2002 hart umstrittenen "Rock über Schlagjeans"-Style durchgezogen hat. Niemand scheint so recht zu wissen, was jetzt der modische Konsens ist. Und eigentlich finde ich das wunderschön.
Da draußen sieht man gerade alle Längen, Formen und vor allem Farben. Wo kommen diese ganzen Farben her?! So viele waren doch früher nicht! Plötzlich können wir aussehen wie Eisbecher mit Sahne – pfirsichgelb, babyblau, puderrosa, mintgrün, und das ganz ohne Scham. Blumenmuster überall! Streifen, grellbunte Karos, flaschengrüner Cord. Alles plötzlich erlaubt, weil niemand mehr weiß, ob das Trenddiktat eigentlich gerade ganz andere Ideen hatte. Falls es gerade Regeln gibt – niemand scheint sie zu kennen. Modische Anarchie. Wunderschön.
Die 2000er waren eine einzige modische Vollkatastrophe – aber wir lieben sie trotzdem

Alle Styles sind erlaubt
Nachdem ich die letzten – immer noch relativ sporadischen – Ausflüge in die Außenwelt aufgrund meiner absoluten Ratlosigkeit allesamt letztendlich in dunklen Jeans und T-Shirts unternommen hatte, habe ich jetzt beschlossen, einfach rumzuprobieren. Wenn man nach anderthalb Jahren Pandemie, Drinsitzen und Lockdown nicht die Chance ergreift, sich jetzt mal selbst als Person und das, wofür man steht und was man modisch ausdrücken möchte, zu hinterfragen und neu aufzustellen – wann denn dann?
Eine Sache habe ich übrigens auch beobachtet: Während viele Frauen gerade jede sich bietende Gelegenheit nutzen, um sich ein bisschen aufzurüschen (was keineswegs Rüschen beinhalten muss), bleiben viele Männer stoisch Jogginghose und T-Shirt treu. Aber auch das ist Mode.