"Wenn ein Stuhl bequem ist, muss er zu einer Art Super-Abbild seiner selbst werden, zu einem Super-Stuhl mit den Eigenschaften eines Super-Stars." Das sagt der kanadische Industriedesigner Jerszy Seymour. Na, super. "Sie haben alle die gleiche Obsession, und zwar den Stuhl zu entwerfen, einen Archetypen fürs Geschichtsbuch", mokiert sich Designer Piero Lissoni über seine Kollegen. Immerhin gilt das Sitzmöbel als eines der ersten Möbelstücke der Menschheit, vielleicht sogar als das erste, seit der Homo sapiens sein Nomadendasein aufgegeben hat. Zudem ist der Stuhl, mehr als jedes andere Möbelstück, genau das, was der Bedeutung von "mobilis" entspricht: beweglich. "Stühle sind ein Alter Ego", sagt auch der Vitra-Chef Rolf Fehlbaum, "welches andere Objekt hat Beine, Arme und einen Rücken und ist sehr nah am menschlichen Körper?"
Vom Stuhl mag sich keiner trennen
So kommt es, dass der Stuhl bis heute nicht nur Möbeldesignern am nächsten steht, sondern uns allen: "Bett, Tisch und Stuhl, das wäre das Wichtigste, was der Gerichtsvollzieher einem nicht wegnehmen darf", meint Karl Lagerfeld. "Ich bleibe auf meinem deutschen Sessel hocken", drohte der CSU-Politiker Hans Michelbach aus Solidarität zur heimischen Möbelindustrie, als die Bundestagsabgeordneten im vergangenen Jahr neue Stühle aus Italien verpasst bekamen.
Wenn Mädchen sich auf Stühlen räkeln
Einer der erotischsten Acts im Pariser "Crazy Horse" ist die Nummer, bei der sich die Mädchen auf und um Bistrostühle herumwinden. Und wer weiß, ob Juliette in die nächste Runde von "Deutschland sucht den Superstar" gekommen wäre, hätte sie sich nicht bei der Big-Band-Sendung so lasziv auf einem Stuhl gerekelt. Das in den Skandal um den britischen Kriegsminister John Profumo verwickelte Callgirl Christine Keeler wählte 1963 für Nacktaufnahmen ein Sitzmöbel als Accessoire und verhalf so dem Modell "Seven" von Arne Jacobsen zu frivolem Ruhm.
Siegeszug des Stuhls über den Hocker
Stuhl, Thron, Heiliger Stuhl, Lehrstuhl - der Stuhl und mit ihm auch das Sitzen drücken in der Regel eine gewisse Würde aus. Am Anfang war zwar der Hocker, aber auch der wäre vermutlich nie entstanden, hätten die Menschen nicht von jeher das Bedürfnis, sich einer über die anderen zu erheben. Vom ersten Hocker bis zum kompliziert konstruierten Sitzmöbel dauerte es ein paar tausend Jahre. Mitte des 19. Jahrhunderts gelang den Brüdern Thonet mit ihrem Stuhl Nummer 14 der Durchbruch auf dem Weg zur industriellen Massenfertigung von Stühlen. Er entstand im "Bugholzverfahren", dem Biegen von Buchenholz unter Wasserdampf.
Stühle sind Lieblingsbeschäftigung der Designer
Bis heute gehört das Erschaffen von Sitzmöbeln zur größten Herausforderung und Lieblingsbeschäftigung der Möbeldesigner. Und wenn, wie gerade auf der 42. Internationalen Möbelmesse in Mailand geschehen, über 2160 Aussteller und Designer ihre Entwürfe präsentieren, sind es vor allem die Stühle, um die sich die Besucher scharen. An ihnen wird festgemacht, ob einer Talent hat oder nicht.
Einer, der's hat, ist Mark Robson, ein noch unbeschriebenes Blatt in der Designwelt. Seine Kreation "Fly" für Zanotta hat ein Gestell aus Carbonfasern, die bisher vor allem in der Luftfahrt und für Rahmen von Profirennrädern verwendet wurden. Das Material ist teurer als Stahl, aber ungleich leichter und ähnlich robust. Die Sitzfläche, 100 Prozent Polyester, habe ein "elastisches Gedächtnis", verspricht der Designer, sie passe sich jeder Lümmellage an. "Ohne auszuleiern."
Der Reis ausgeklügelter Polymerverbindungen
Kunststoff ist das Material der neuen Sitzmöbelgeneration, doch mit dem Plastik der sechziger und siebziger Jahre hat es nicht mehr viel zu tun. Die neuen Materialien sind ausgeklügelte Polymerverbindungen. Daraus hat auch Ron Arad, Erfinder des berühmten "Bookworm", für die Firma Cappellini eine Serie von In- und Outdoor-Stühlen namens "Nino Rota e None Rota" entworfen. Überhaupt scheint die Vereinbarkeit von drinnen und draußen vielen Möbelmachern am Herzen zu liegen: Auch "Fly" ist wetterfest, ebenso wie der Riesen-Pouf "Osorom", den der Münchner Konstantin Grcic für Moroso entwarf; er ist aus beschichtetem Fiberglas und dank seiner korbartigen Konstruktion auch wasserdurchlässig.
Philippe Starck und seine 'Mademoiselle'
Einer, der den Stuhl jedes Jahr neu erfindet, ist der französische Designer Philippe Starck. Voriges Jahr stellte er bei Kartell "Louis Ghost" vor, einen robusten Barocksessel aus transparentem Polycarbonat, jetzt präsentierte er "Mademoiselle", ein Sitzmöbel mit zierlichen, durchsichtigen Beinen, oben herum leicht gepolstert und in farbenfrohe Seide gehüllt.
Mehr Experimentierfreude
Seit Jahren meldet die Designpresse, mit dem Minimalismus sei es jetzt endgültig aus, ein Comeback der Farben kündige sich an. Farbe ist tatsächlich ein großes Thema, bunte Stoffe, opulente Formen, vergessene Materialien wie Kristall und Email. Trotzdem: Die Wengé und den grauen Filz gibt es noch. Auf jeden Fall wächst die Experimentierfreude der Designer. Für die niederländische Firma Moooi entwarf der 25-jährige Newcomer Maarten Baas einen Armsessel, dessen Gestell zuerst verkokelt und dann mit Lack versiegelt wurde. Das Modell trägt den Namen "Smoke".
Der für seine unkonventionellen Gestaltungsprozesse bekannte italienische Designer Gaetano Pesce entwickelte für Zerodisegno "King and Queen of Nobody", zwei in Form und Farbe aufeinander abgestimmte Sessel aus Kunstharz. Jedes Stück ist ein Unikat und ein Zufallsprodukt, da die Farben erst beim Gießen in das Material eingearbeitet werden.
Verlockende technische Möglichkeiten
"Die Zukunft liegt im Experimentieren", sagt auch der Japaner Tokujin Yo shioka, dessen Sitzsäule "Tokyo Pop" bei Driade gezeigt wurde. Der ehemalige Schüler des Designers Shiro Kuramata und des Modeschöpfers Issey Miyake experimentiert mit hauchdünnem Glas und hält die technischen Möglichkeiten beim Lieblingsobjekt der Möbelmacher noch lange nicht für ausgereizt: "Warum sollen wir uns mit der Frage herumärgern, wie der nächste Stuhl aussehen wird, wo wir doch eines Tages Wege erschaffen werden, um in der Luft zu sitzen?"