Freizeit Möge die Nacht mit dir sein

Freizeit: Möge die Nacht mit dir sein
Müde? Keine Lust zu feiern? Das Sofa sieht schon wieder so gemütlich aus? Willkommen in der Nightlife-Crisis!

Illustrationen: Baptiste Virot

Der Freitag stirbt immer als Erstes.
Dass mit mir etwas nicht stimmt, merkte ich, als ich zum ersten Mal sagte: »Ausgehen? ­Heute? Nee, ich bin ja morgen Abend schon verabredet.«
Ich sprach diese Worte an einem Freitag vor etwa einem Jahr. Meine Kollegen bastelten im Büro gerade am Masterplan für die perfekte Nacht: erst in eine Bar, dann vielleicht auf eine Party, später unbedingt noch tanzen.

Und ich? Der Gedanke, zwei Tage hintereinander auszugehen, erschien mir plötzlich absurd. Viel zu anstrengend! Ein Abend auf dem Sofa, mit Pizzaservice und einer Staffel »Modern Family«, das erschien mir die bestmögliche Beschäftigung für den Beginn des Wochenendes. »Freitagabend bin ich immer so kaputt«, rechtfertigte ich mich vor den Kollegen, »ich mache lieber was Gemütliches.« Da wurde mir vollends klar, dass ich ein Problem habe. »Lieber was Gemütliches machen« – das sagen Menschen, die von der Nightlife-Crisis erwischt wurden. Und nun hatte auch ich mich infiziert. Ich hatte keine außergewöhnlich ­harte Arbeitswoche, die meine Faulheit legitimiert hätte, ich sah nur plötzlich keinen Sinn darin, am Abend das Haus zu verlassen. Einmal weggehen mehr oder weniger, darauf kommt es nun wirklich nicht an. Ich kenne es ja.

Die Nightlife-Crisis gehört zu den gefürchteten Lebensabschnittskrisen und tritt meist zwischen Quarterlife-Crisis und Midlife-­Crisis auf, also irgendwann um den 30. Geburtstag herum. Wie die anderen Identitätskrisen markiert sie einen Wendepunkt in der Biografie, an dem man Bilanz zieht und sich fragt: Wer bin ich und wofür stehe ich? Passe ich noch in das Leben, das ich bislang geführt habe? Oder, ganz konkret im Fall der Nightlife-Crisis: Passe ich noch in die Nacht?
Dass man am Ende einer harten Arbeitswoche grundsätzlich nicht mehr ausgeht, ist ein frühes, aber sicheres Symptom für die Nightlife-Crisis. Sie beginnt mit einer abnehmenden Clubbing-Frequenz und führt irgendwann zu einem dramatischen Wandel im Ausgehverhalten.

Der typische Krisenverlauf:
1. Man beschwert sich darüber, dass am Wochenende immer alle erst gegen Mitternacht losziehen, und plädiert dafür, dass Partys schon um 20 Uhr anfangen sollten.
2. Man wundert sich im Club darüber, dass die anderen Gäste so jung sind und seltsame Klamotten tragen.
3. Man stellt sich mitten auf der Tanzfläche plötzlich die Frage, was das alles soll und was man hier eigentlich macht. Dann geht man kopfschüttelnd nach Hause.
4. Man geht überhaupt nicht mehr in Clubs, sondern nach drei Drinks in der Lieblingsbar ins Bett.
5. Man geht nicht mehr aus, wenn es ­regnet oder die Temperatur unter acht Grad Celsius fällt.
6. Man geht auch samstags nicht mehr aus.

Ich bin mittlerweile bei Punkt fünf angekommen. Damit bin ich zu einem dieser langweiligen, faulen Menschen geworden, die ich früher immer bemitleidet habe. Das Erstaunliche ­daran ist: Ich finde, mir geht es ziemlich gut damit. Ich bin mit meinem Leben zufrieden. So kommt es mir jedenfalls vor.

Trotzdem ist da ein leiser Zweifel: Lullt sie mich ein, meine Faulheit? Locken mich das Sofa und das Netflix-Konto mit falschen Versprechen (»Entspann dich! Da draußen ­verpasst du ja doch nichts!«) in einen Zustand, der mich doch noch unglücklich machen wird?

Bis vor ein paar Jahren war die Nacht noch so wichtig für mich. Sie hat mir viele euphorische, wilde, alberne, dramatische, legendäre Momente geschenkt, Küsse, Tränen, blaue Flecken, Lachflashs. Ich habe mich in sie hineingeworfen und treiben lassen, und sie war gut zu mir. Dank ihr stand ich mal zufällig in New York auf einer Party neben Martin Scorsese, dank ihr weiß ich, wie überwältigend sich Rummachen im Berghain anfühlt und dass man bei spontanen Freibadeinbrüchen Freundinnen fürs Leben finden kann. Lauter Erinnerungen, die der helle, vernünftige Tag nicht geschaffen hätte und an die ich in dreißig Jahren ziemlich sicher öfter zurückdenken werde als an all die entspannten Kuschel-Serien-Pizza-Abende vor dem Fernseher.

Warum ist mir die aufregende Nacht plötzlich egal? Nur, weil ich jetzt 35 (also ­schneller müde) und in einer festen Beziehung (also liebestechnisch versorgt) bin? Wird man im Leben eigentlich zwangsläufig zum Ausgehmuffel? Und: Ist die neue Langweiligkeit gut für mich – oder ­sollte ich in Therapie gehen?

Ich rufe also den Persönlichkeitspsychologen John Rauthmann von der Berliner Humboldt-Uni an. Er kennt sich offenbar mit hysterischen Patienten aus und spricht in einem sanften Tonfall, mit dem Ärzte den Menschen erklären, dass ein Schnupfen im Winter nichts Ungewöhnliches ist. »Mit dem Alter verschiebt sich das, woraus man Freude zieht«, sagt er. »Statt Partys sind das eher kleinere Runden. Man macht es sich öfter gemütlich.«

Gemütlich, da ist es wieder, dieses schlimme Wort, das so unsexy nach Wollsocken, Jogginghosen und Wohlstandsplauze klingt. Das Gegenteil von Rock ’n’ Roll.

Freizeit: Möge die Nacht mit dir sein

Oft denke ich, dass meine nachlassende Ausgehlust auch ein Zeichen körperlichen Verfalls ist. Nach einem Abend in der Bar streichle ich erst einmal drei Tage lang meinen ­Alkoholkater und bleibe auf dem Sofa sitzen. Rauthmann erklärt mir aber, dass der soziale Kontext eine wichtigere Rolle spiele als das biologische Alter. Entscheidend sei die Lebenssituation. Mit Anfang ­zwanzig geht man halt häufiger aus, weil man meist neu im Job oder im Studium ist und Freunde und Lover kennenlernen möchte. Sobald man sich festlegt, auf eine Arbeit, einen Partner, ändern sich die Rolle. Mein Freundeskreis ist beständig, der Job beschäftigt mich oft noch am Wochenende, die emotionale Stabilität meiner Beziehung schätze ich mehr als das Emo-Chaos einer Affäre. Mir geht es erst seit Kurzem so, die Nightlife-­Crisis kann aber auch schon mit 25 auftreten. Der Psychologe Rauthmann sagt, man sei in dieser Phase weniger abhängig vom »Soziometer«. Das ist das innere Messsystem für unser Selbstwertgefühl, das auf Anerkennung durch andere Menschen reagiert und mit dem wir unseren sozialen Marktwert bestimmen.

Im Nachtleben sucht man ja meistens: jemanden, etwas, sich selbst. Wenn man den oder die, das und sich dann gefunden hat, fühlt man sich schnell, als hätte man im Club nichts mehr verloren.
Vielleicht muss ich den Blick auf die Nacht ändern. Auch wenn ich auf der Tanzfläche nicht mehr nach dem großen Ganzen suche, weil ich das schon in anderen Lebensbereichen gefunden habe, kann ich mich trotzdem daran erfreuen, wie schön es ist, im Takt der Musik zu hüpfen und die Arme in die Luft zu werfen, als wäre alles andere egal. Die Nacht ist Ausgleich für den Tag, ein Raum, in dem man endlich mal nicht funktionieren muss. Der Exzess pustet Alltagssorgen weg. Die amerikanische ­Autorin Barbara Ehrenreich hat für ihr Buch »Dancing in the Streets. A History of Collective Joy« die Kulturgeschichte des Feierns untersucht und kommt zu dem Fazit, dass gemeinsam erlebte Freude ein fundamentales Bedürfnis ist. Der Mensch sei ein Lebewesen, das in der ­Lage ist, sein eigenes ekstatisches Vergnügen aus Musik, Farben, Feiern und Tanzen zu schaffen – eine tolle Fähigkeit, die wir nutzen müssen. Ehrenreich glaubt: Unterdrücken wir dieses Bedürfnis, laufen wir Gefahr, depressiv zu werden. Wer sich ganz der Nightlife-Crisis ergibt, wird zum Roboter.

Der Monotonie des Alltags muss man sich hin und wieder entziehen. »Dass man, gerade um etwas Bestimmtes zu sein, vielleicht noch etwas Zweites, Anderes sein, oder es wenigstens als Fiktion mit sich tragen muss«, falle uns schwer zu denken, schreibt der österreichische Philosoph Robert Pfaller in seinem Sachbuch »Zweite Welten. Und andere Lebenselixiere«. Besondere Umstände können dieses Andere entstehen lassen, glaubt Pfaller: Das, was uns im Alltag unvernünftig, ungesund, anstrengend erscheint, wird in bestimmten sozialen Situationen, etwa in einer Gruppe feiernder Menschen, zu etwas Großartigem, Lohnendem, ­Lebenswertem. Der fünfte Schnaps alleine daheim wäre traurig, in einer Runde mit ­Freunden an der Theke des Lieblingsclubs kann er der Beginn eines Abenteuers sein.
Während ich über die Nightlife-Crisis nachdenke, fällt mir auf, dass sie für mehr steht als die schwindende Lust aufs Feiern: In der Nacht halte ich das Ungewisse aus. Ich lasse den ­Moment zu, in dem alles kippen kann. Warum eigentlich sollte das nur in der Dunkelheit möglich sein? Vielleicht muss ich ja meinen Blick auf den Tag ändern: Auch bei Licht darf man doch ein bisschen spielen. Von der Nacht habe ich schließlich gelernt, wie das geht.
Zusätzlich habe ich mir vorgenommen, den Freitag wiederzubeleben. Das Sofa darf niemals ganz die Nacht besiegen.