Wer in Düsseldorf aufwächst, wächst mit den Toten Hosen auf. Die Band ist untrennbar mit ihrer Heimatstadt verbunden - so wie Die Ärzte mit Berlin, die Fantastischen Vier mit Stuttgart, die Beginner und Fettes Brot mit Hamburg. Ich bin als gebürtiger Düsseldorfer mit den 90er-Jahre-Hosen aufgewachsen. Die Band war damals zwar nicht mehr ganz so bunt und wild unterwegs wie in ihren Anfangstagen, aber der neue Weltschmerz in den Texten sprach mir als Teenager trotzdem aus der Seele.
Wer in Düsseldorf aufwächst und sich für Rockmusik begeistert, beginnt seine Karriere als Konzertgänger bei den Toten Hosen - eine Art schlechte musikalische Früherziehung, die auch ich genoss. Ich besuchte Hosen-Sausen in der Düsseldorfer Philipshalle, in der Grugahalle in Essen, in der Dortmunder Westfalenhalle, in der Kölnarena - für mich als pubertierendes Problemkind waren das prägende Erfahrungen über die kathartische Wirkung lauter Live-Musik, und keine so prägend wie das 1000. Konzert der Band am 28. Juni 1997 im Rheinstadion.
Die Toten Hosen: Zäsur der Bandgeschichte
Das Ereignis hat sich kollektiv ins Düsseldorfer Gedächtnis eingebrannt, auch in der Bandgeschichte bedeutet es eine Zäsur. Der Grund: Im Gedränge vor der Bühne starb ein 16-jähriges Mädchen aus den Niederlanden. Es war die schreckliche Pointe für eine der größten Partys, die meine Heimatstadt je gesehen hatte. Genau deshalb gerät die Erinnerung an diesen Tag so ambivalent: Die Zuschauer im Stadion ahnten nichts von der Katastrophe, und die Sicherheitskräfte hatten großes Interesse daran, dass dies bis weit nach Ende des Konzerts auch so blieb.
Das 1000. Konzert der Toten Hosen (die Zahl war übrigens eine Schätzung, wie die Band längst zugegeben hat) schien einer dieser perfekten Tage zu sein. Das Konzert war bereits seit einem halben Jahr ausverkauft. Jeder der 65.000 Fans wirkte so glücklich wie bierselig über die Tatsache, dass er das heißeste Ticket der Stadt ergattert hatte. Hier war man nicht bloß als Hosen-Fan, hier war man als Düsseldorfer. Vom blauen Himmel brannte die Sonne und auf der Bühne heizten Vorbands wie Bad Religion schon am Nachmittag den jungen und alten Punks im Publikum ein.
Ich war mir nur selten in meinem Leben so sicher, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, wie damals im riesigen Rund des Rheinstadions, das sonst als altehrwürdige Heimspielstätte der launischen Fortuna herhalten musste. Der Ablauf glich einem kleinem Festival mit Einlass schon am frühen Nachmittag und einigen Special Guests. Die vibrierende Vorfreude legte sich wie ein Hitzeflimmern über den Innenraum.
Als die Toten Hosen am frühen Abend als schrottige Schlager-Coverband Die Roten Rosen ein kurzes Gastspiel als eigene Vorgruppe auf der Bühne gaben, drohte die Euphorie zum ersten Mal zu eskalieren. Der Pogo-Mob tobte und die fehlenden Wellenbrecher machten sich erstmals bemerkbar. Vor der Bühne kam es zu chaotischen Szenen. Was würde wohl erst passieren, wenn der richtige Auftritt der Hosen beginnen würde? Fragten wir uns begeistert und holten uns noch ein Bier.
Pünktlich um 21 Uhr (der Pay-TV-Sender "Premiere" übertrug live) begann das eigentliche Konzert. Die Hosen legten los mit "Hier kommt Alex", "Alles wird gut" und "Liebesspieler" - drei Klassiker als klare Ansage zum Start: Die Abrissparty war offiziell eröffnet. Ich war damals gerade 17 Jahre alt und leicht zu beeindrucken, aber bis heute habe ich auch auf 1000 weiteren Konzerten (ebenfalls eine Schätzung) aller möglichen Bands keine heftigere Publikumsreaktion erlebt. Während der ersten Minuten des Hosen-Auftritts schien sich alle aufgestaute Erwartung dieses Sommertages in einem Erdbeben zu entladen. Es war beeindruckend und beängstigend. Ich brachte mich am Rand der Menge erstmal in Sicherheit.
Fans wunderten sich über Konzertunterbrechung
Mit jedem weiteren Song schien die Band die Schlagzahl nur noch zu erhöhen. "Wünsch dir was", "Niemals einer Meinung", "1000 gute Gründe" - ein Fan-Favorit wurde an den nächsten gereiht, wie sich das für ein deftiges Jubiläumsspektakel gehört.
Aber nach einer guten Dreiviertelstunde wurde das Konzert plötzlich unterbrochen. Auf Zuruf von Tourmanager Kiki Ressler verließen Campino, Kuddel, Breiti, Andi und Wölli zunächst die Bühne. Was war los? Probleme mit dem Sound? Pinkelpause? Oder hatten die Bandmitglieder - die meisten von ihnen seinerzeit auch schon Mitte 30 - etwa Konditionsprobleme nach dem Blitzstart? Fragten wir uns lachend und holten uns noch ein Bier.
Es waren jene Minuten, in denen die Band erfuhr, dass vor der Bühne ein Mensch ums Leben gekommen war und dass es viele weitere Verletzte gab. Die Einsatzleitung bat die geschockten Musiker mit Nachdruck, wieder raus zu gehen und weiter zu spielen, weil die Folgen eines Abbruchs der überhitzten Veranstaltung völlig unabsehbar seien. Es war die Zeit vor dem Internet und vor den sozialen Medien. Damals konnte so eine Geheimhaltungstaktik noch funktionieren.
Kurz darauf ging das Konzert unter dem allgemeinen Jubel der Fans tatsächlich weiter. Wir wunderten uns, warum das Flutlicht inzwischen eingeschaltet worden war. Auf der Bühne standen Beamte von Feuerwehr und Polizei herum. Außerdem fielen die Ansagen von Campino auf einmal deutlich gedämpfter aus. Vom Vollgas der ersten Viertelstunde war nicht mehr viel übrig. Wiederholt wies er die Ordner darauf hin, sobald im Publikum mal wieder ein Fan gestürzt war. In regelmäßigen Abständen forderte er uns auf, gestürzten Nebenleuten aufzuhelfen. Sichtlich angeschlagen mahnte der Sänger andauernd zur gegenseitigen Rücksichtnahme.
Ganz schön gesittete Worte von der Rampensau einer Band, die jahrelang mit dem Slogan "Betreten auf eigene Gefahr" für ihre Konzerte geworben hatte. Es kam uns alles ein bisschen komisch vor, aber keineswegs bedrohlich. Wir dachten einfach nicht weiter darüber nach. Was sollte schon passiert sein? Fragten wir uns nicht wirklich und holten uns noch ein Bier.
Der dunkle Schatten auf der Bandgeschichte
Erst auf dem Heimweg in der U-Bahn, als wir gerade beseelt die Höhepunkte dieses denkwürdigen Tages austauschten, sickerte die Nachricht durch: Es habe ein Unglück gegeben, es sei womöglich jemand gestorben. Noch glaubten wir an eine stille Post des Schreckens, die sich versenden würde. Zuhause hörten wir die Meldung dann im Radio.
Der Tod ihres Fans aus den Niederlanden liegt für immer als dunkler Schatten auf der Geschichte der Toten Hosen, die im Anschluss über anderthalb Jahre kein Konzert mehr in Deutschland spielten und lange über eine Auflösung nachdachten. Irgendwann schrieben sie den Song "Alles ist eins" für das verstorbene Mädchen, mit dessen Familie sich eine Freundschaft entwickelte. Mit einer Tour durch Australien, Neuseeland, Japan und die USA gelang schließlich doch noch ein Neustart, der lange nicht denkbar schien. Davon abgesehen hatte die Band, die jahrelang nur zu gerne mit der eigenen Verantwortungslosigkeit hausieren gegangen war, ihre Unschuld für immer verloren.
Wahrscheinlich haben die Toten Hosen am 28. Juni 1997 bis zur unheilvollen Unterbrechung eines der besten Konzerte der deutschen Rockgeschichte gespielt. Aber angesichts der dramatischen Ereignisse verbietet sich eine solche Einordnung.
Gitarrist Kuddel antwortete viel später einmal auf die Frage nach seinem persönlichen Höhepunkt der Bandkarriere: "Unser 1000. Konzert." Und auf die Frage nach dem Tiefpunkt: "Unser 1000. Konzert." Jeder Fan, der an diesem Sommertag im Rheinstadion dabei war, weiß ganz genau, wie er das meint.
