Wo war der Engel? Die Freunde hatten ihn drei Tage nach der Beerdigung aufgestellt. Doch als Stefans Eltern das Grab besuchten, konnten sie ihn nicht finden. Er musste gestohlen worden sein, wie so viele andere Dinge, die sie ihrem toten Sohn vorbei brachten.
Die Mitbringsel verschwanden immer wochentags - und immer war der Boden vor dem geplünderten Grab geharkt. "Man hat sich gar nicht mehr getraut, etwas hinzustellen", sagt die Mutter des verunglückten 20-Jährigen auf dem Flur des Amtsgerichts. "Man fragte sich: Hat jemand was gegen uns, hat jemand was gegen unseren Sohn?"
Ein quälendes Jahr später löste sich das Rätsel. Der Vater der nur 17 Jahre alt gewordenen Kim machte die entscheidende Beobachtung: Er sah die Friedhofsmitarbeiterin, als diese eine Figur vom Grab seiner Tochter nahm und in ihrem Arbeitswagen versteckte. Es war genau jene Frau, mit der sich die Eltern der verunglückten Gymnasiastin oft unterhalten hatten, die sich so sehr für ihr Leid interessierte. Kims Eltern hatten sie gebeten, ein Auge auf das Grab ihrer Tochter zu werfen, von dem seit zwei Jahren Teddys, Engel und Herzen verschwanden. Die fand die Polizei später in der vermüllten Wohnung von Christine Grimm*.
Psychisch gepeinigte Wiederholungstäterin
Das Leben meinte es nicht gut mit der 53-Jährigen, das sieht man der zu ihrem Verteidiger huschenden Frau auf den ersten Blick an. Sie ist klein und untersetzt, ihre langen, schwarzen Haare sind strähnig, ihr Mund schief und schmal, ihre Stimme rau von Alkohol und Nikotin. Sechs Mal saß sie schon auf der Anklagebank, immer wegen Diebstählen. Als sie auf dem Friedhof klaute, stand sie unter Bewährung.
13 Taten werden nun vor dem Amtsgericht verhandelt, vier Gräber sind betroffen. Zehn der Taten lässt die Angeklagte über ihren Verteidiger "einräumen", aber ein weißes und ein schwarzes Stoffschaf sowie einen auf einem roten Herz sitzenden Engel will sie "anderweitig erworben" haben. Juristensprache kann herzlos sein. Ohne Diskussion werden die drei bestrittenen Taten von der Liste gestrichen. Die als Zeugen geladenen Eltern werden entlassen, man benötigt ihre Aussage nicht. Das Gericht erfährt nichts von den Gefühlen der Menschen, auf denen die Angeklagte ausgerechnet in einer Zeit herumtrampelte, als diese gerade großes Leid erfahren hatten.
Den Schlüssel zum Verständnis von Grimms Verhalten soll ein psychiatrischer Gutachter liefern. Der berichtet von einem problematischen Elternhaus, "einem Milieu aus Feindseligkeit, Gewalt und Abwertung." Genauer will der Psychiater aus Rücksicht auf die Angeklagte nicht werden. Es muss eine schlimme Kindheit gewesen sein. Die Bewährungshelferin sagt: "Es ist ein Wunder, dass sie sich überhaupt entwickeln konnte."
Diebstahl als Belohnung
Ihre Wut über das, was man ihr angetan hat, könne Grimm kaum heraus lassen, erklärt der Gutachter. Seit 1993 benötigt sie regelmäßig psychiatrische Hilfe, sie leidet unter neurotischen Depressionen. 2001 ließ sie sich vom Vater ihres jüngsten Sohnes scheiden und stand allein da, ohne Mann, ohne Job, mit einem schwererziehbaren Kind. In dieser Zeit entdeckte sie das Stehlen als Selbstbelohnung: "Sie wollte auch mal hübsch aussehen und klaute einen String-Tanga", sagt der Gutachter. Jahrelang kämpfte Grimm mit der Ablösung von ihrem Ex-Mann und dem Alkoholismus. Auf dem Höhepunkt ihrer Verzweiflung begann sie, auf dem Friedhof zu stehlen, möglicherweise in einem Zustand der verminderten Schuldfähigkeit, so der Psychiater.
Die gestohlenen Engel und Kuscheltiere haben für ihn einen "Symptomtouch": Sie symbolisieren die Liebe der Hinterbliebenen für bedauernswerte Kinder. Auch die Angeklagte sieht sich als bedauernswerten Menschen, deren Seele im Kindesalter getötet wurde. Möglicherweise stahl sie die quasi mit Liebe aufgeladenen Grabbeigaben, um dieses entbehrte Gefühl in ihr Heim zu transferieren.
Die Bestohlenen haben wenig Verständnis für Grimms Motive. Sie sind wütend und fassungslos, dass ihnen dieser Prozess keinen Raum bietet, um ihre verletzten Gefühle zu äußern. Genau deshalb bietet die Strafprozessordnung für Opfer von Straftaten die Möglichkeit der Nebenklage. Dies betrifft aber nur Delikte wie Beleidigung, Körperverletzung oder Mord, nicht aber Diebstahl.
Entsetzte Hinterbliebene
"Wozu gibt es einen Staatsanwalt", fragt Stefans Vater, ein grauhaariger Mann, in einer Verhandlungspause. Er hätte sich vom Ankläger gewünscht, dass dieser die Diebin nach ihren Motiven fragt. Ob diese darauf hätte antworten können? "Sie schämt sich", versichert die Bewährungshelferin gegenüber der Mutter einer verstorbenen Achtjährigen. Deren Grab wurde fünf Tage nach der Beisetzung geplündert.
Man habe die Freunde gebeten, nichts mehr mitzubringen. Nur Pflanzen seien nie weg gekommen, erzählt diese Mutter. Stefans Eltern begannen, ihre Gaben anzuschrauben und anzuketten, Kims Eltern kennzeichneten und fotografierten ihre Sachen. "Man wird schizophren, man fragt sich, habe ich das nun hingestellt oder nicht", sagt Stefans Mutter. Dabei sei ihnen das Pflegen und Schmücken des Grabes so wichtig, ist es doch das Einzige, was sie für ihr totes Kind noch tun können.
Der notorischen Diebin droht das Gefängnis. Nur bedingt vermag ihr der Psychiater eine positive Prognose zu geben: Sie sei im Stande, soziale Beziehungen aufzubauen und sich Hilfe zu organisieren. Als Minijobberin betreut sie derzeit ein Schülercafe. Dort schätze man ihre Schnelligkeit und Freundlichkeit, diese Anerkennung sei ihr wichtig. Sie müsse sich aber einer langfristigen Therapie unterziehen, empfiehlt der Gutachter. Das ist auch der Wunsch der Angeklagten, die sich kurz vor dem Urteil eine Entschuldigung abringt: "Es tut mir für die Angehörigen sehr leid."
"Gericht kein Ort für Therapie"
18 Monate Haft auf Bewährung entscheidet die Richterin, so haben es auch Staatsanwalt und Verteidiger gefordert. "Juristisch ist der Fall einfach", sagt die Vorsitzende. Man habe ein Geständnis und verminderte Schuldfähigkeit. Die Taten seien moralisch verwerflich, Grimm habe eben nicht nur Kaffee gestohlen: "Man sieht es an den Gesichtern", sagt die Richterin zu den Hinterbliebenen. In diesem Moment verlässt Stefans Vater den Saal. Er hat kein Verständnis für diese täterorientierte Betrachtung, in der sein Leid niemanden zu interessieren scheint.
Auf die Frage, warum man den Eltern nicht die Chance gab, trotz Geständnis im Prozess aufzutreten, meint der Staatsanwalt, 18 Monate Haft seien eine harte Strafe für den Diebstahl von "Pille Palle". Die Richterin gesteht, beim Lesen der Akte seien ihr Schauer über den Rücken gelaufen - wegen dem Schicksal der Angeklagten und dem Leid der Bestohlenen. Nur sei das Gericht eben kein Ort für Therapie.
* Name von der Reaktion geändert