Stefans Eltern sind gekommen. Und auch sein Bruder Oliver. Sie haben sich durch die schmale schwere Eichenholztür und durch das Blitzlichtgewitter der unzähligen Kameras gekämpft. Sind die Stufen hoch zum Schwurgerichtssaal gegangen und haben sich neben ihre Anwältin gesetzt. Ulrich Jahr hat - ganz kurz nur - die Hand seiner Frau gedrückt, und dann haben sie gemeinsam auf diesen einen Moment gewartet, den sie in den vergangenen 19 Jahren immer wieder vor sich gesehen haben: Die Begegnung mit dem Mörder von Stefan. Es ist der 10. Oktober 2011. Am Terminsbrett des Landgerichtes Stade ist für 10.15 Uhr die Verhandlung in der Strafsache Martin N. angeschlagen. Er soll neben Stefan, den achtjährigen Dennis R. und den neunjährigen Dennis K. "aus niedrigen Beweggründen" getötet haben. Außerdem wirft ihm die Staatsanwaltschaft den sexuellen Missbrauch von Kindern in 20 weiteren Fällen vor. Nur noch ein paar Minuten, dann wird der 40-Jährige den Saal betreten, der jahrelang von einer Sonderkommission (Soko) gesucht wurde und den alle nur den "Maskenmann" nannten. Ulrich Jahr sitzt kerzengerade. Den Blick auf die Tür gegenüber gerichtet.
Martin N. will nicht gefilmt werden
Der lange, weiß getünchte Saal ist bis auf den letzten Platz belegt. Polizisten mit schusssicheren Westen unter der Uniform kontrollieren jeden einzelnen Besucher. Sicherheitsstufe eins. "Jetzt", winkt einer der Beamten, und dann ist er da. Kommt durch die Tür, hält mit den gefesselten Händen eine rosa Akte vor das Gesicht und den langen braunen Vollbart. Nur die zum Teil ergrauten Haare des über 1,90 Meter großen Mannes sind zu sehen. Seine helle Jeans, der dunkelblaue Rollkragenpullover und darüber die dunkle Jeansjacke. Martin N. will nicht gefilmt werden. Ein Polizist muss ihm helfen, dass er nicht stolpert. Ulrich Jahr versucht seine Gefühle zu sortieren. Eine knappe Stunde später wird er sagen: "Aber da war nichts. Emotional lässt der mich längst kalt."
Die Hälfte der Übergriffe ist verjährt
Es ist wie das Ausgebranntsein nach einem langen Kampf. Einem, der für die Jahrs nicht zu gewinnen war. Sie hatten schon an dem Tag im Mai 1992 verloren, als die Kripobeamten ihnen mitteilten, dass der Leichnam ihres Sohnes mit gefesselten Händen gefunden worden war. Der Täter hatte ihn in den Verdener Dünen verscharrt, rund 40 Kilometer vom Internat der Eichenschule im niedersächsischen Scheeßel entfernt, wo der der 13-Jährige in der Nacht zum 31. März spurlos verschwunden war.
Damals ahnten die Ermittler noch nicht, dass der "Fall Stefan J." der erste in einer ganzen Serie mysteriöser Fälle sein würde, die fast ein Jahrzehnt lang für Angst und Schrecken in norddeutschen Ferienlagern und Freizeitheimen sorgen sollten. Erst im April diesen Jahres kam der Durchbruch: Der lang Gesuchte wurde gefasst - und es stellte sich heraus, dass es ein in Bremen geborener und seit einiger Zeit in Hamburg lebender Pädagoge war, dem niemand so grausame Taten zugetraut hätte. Doch Martin N. gestand sehr schnell. Er räumt den Missbrauch von rund 40 Jungen ein. Die Hälfte der sexuellen Übergriffe ist inzwischen verjährt. Angeklagt ist er deshalb "nur" wegen insgesamt 23 Straftaten.
"Ruhe, sonst bringe ich dich um"
Der Staatsanwalt braucht am ersten Prozesstag fast 15 Minuten; ehe er die lange Liste der Verbrechen aufgelistet hat. Sie beginnt mit dem Mord an Stefan Jahr im Jahr 1992, führt unter anderem den Fall des kleinen Sebastian aus Bremen auf, der spät abends von dem Maskenmann in seinem Kinderzimmer überfallen wird. "Ruhe, sonst bringe ich dich um", sagt er leise zu dem Elfjährigen und hält ihm eine Pistole vor. Der bittet: "Aber nicht vergewaltigen". Doch der Maskenmann lässt nicht von ihm ab - und es scheint ihn nicht zu stören, dass Sebastians Mutter nur ein paar Zimmer weiter ahnungslos telefoniert. Bei seinen Verbrechen geht der Maskenmann nach einem fast immer ähnlichen Muster vor. Er tarnt sich mit einer dunklen Sturmhaube dringt in Häuser, Schullandheime oder Zeltlager ein, weckt einen Jungen und missbraucht ihn - meist unbemerkt von Eltern, Lehrern und Betreuern.
Die Anklage endet mit dem 5. September 2001: Damals verschwand der neunjährige Dennis K. nachts aus dem Schullandheim in Wulsbüttel im Kreis Cuxhaven. Die Soko "Dennis" wird eingerichtet. Zwei Wochen später finden Pilzsammler die Leiche des Kindes. Es war ebenfalls entkleidet, missbraucht und erwürgt worden.
Ist etwas geblieben von dem großen Bruder?
Martin N. hebt während der Schilderungen nur selten den Blick. Er schaut zu den drei Richtern, zu den Zuschauern, zu den Eltern der getöteten Kinder, die ihm mit einigem Abstand gegenüber sitzen, schaut er nicht.
Ulrich Jahr hat die Aufzählung ebenso nahezu regungslos verfolgt, wie seine Frau Petra. Nur Oliver, der Bruder von Stefan hat immer wieder nervös auf seinen Lippen gekaut. Er war der Kleine, damals, als Stefan verschwand, gerade fünf Jahre alt. Woran kann man sich nach all den Jahren noch erinnern? Ist etwas geblieben von dem großen Bruder, dessen Bild im Flur hängt und einen pfiffigen blonden Junge mit einem blau-weiß gestreiften Sweatshirt zeigt?
Oliver hat diese Fragen in der Vergangenheit immer wieder gestellt bekommen. Er hat es aushalten müssen, dass nach Stefans Tod nichts mehr war, wie vorher. Dass seine Mutter so oft weinte, dass sein Vater sich so oft Gedanken machte über die Ermittlungen, die irgendwann feststeckten und dass er für viele immer wieder nur der Bruder war vom Stefan, der ermordet worden war. Was soll er noch sagen? Er sieht aus, als wäre er jetzt lieber woanders.
"Intelligent, aber abgrundtief böse"
Als der Vorsitzende Richter den Angeklagten fragt, ob er etwas "zur Sache" sagen möchte, antwortet einer seiner beiden Verteidiger, dass Martin N. sich nicht äußern wird. Doch er kündigt für den kommenden Verhandlungstag eine etwa einstündige Erklärung an, die er im Namen seines Mandanten verlesen werde. Es ginge dabei um die vorgeworfenen Taten und auch zur Person von Martin N. werde er etwas sagen. Ulrich Jahr ist das zu wenig. Auf eine Entschuldigung haben er und seine Frau all die Jahre vergeblich gehofft. Er glaube nicht daran, dass sein Sohn "einfach nur" missbraucht und dann getötet wurde. Er glaubt, dass Martin N. das Kind noch nach seinem Tod vergewaltigte. Er glaubt, dass der Mann intelligent aber abgrundtief böse ist und will, dass der Mörder "nie wieder frei kommt". Und, sagt der 68-Jährige, "ich will dass wir endlich unseren Frieden finden können". Kurz nach elf Uhr steigen er, seine Frau und sein Sohn Oliver die Stufen runter zum Ausgang. Sie müssen sich wieder durch das Blitzlichtgewitter der Kameras kämpfen. Dann stehen sie vor dem Backsteinbau. Sind allein.