Strafprozess in Berlin Der Rollstuhlfahrer wehrte sich - und hatte plötzlich ein Messer am Hals

Von Samuel Rieth
Ein Obdachloser bestiehlt einen Rollstuhlfahrer. Doch der wehrt sich - bis der Täter ein Messer zieht. Beide Männer hatten Pech im Leben. Doch was sie daraus gemacht haben, könnte unterschiedlicher kaum sein. In einem Gerichtssaal in Berlin treffen sie einander wieder.

Sultan G. braucht Geld, also bittet er den Mann im Rollstuhl um einen Euro. Für einen Kaffee, sagt er. Der Mann zögert kurz, dann zieht er seinen Geldbeutel aus der Tasche. Neben der Münze stecken zwei Scheine. Ein Zwanziger, ein Fünfer. Kein Vermögen, aber genug, findet Sultan G. Dass sein Opfer nur ein Bein hat, bringt den Täter nicht ab von seinem Vorhaben. Vielleicht hält er das Geld, das der Mann im Rollstuhl besitzt, einfach nur für leichte Beute. Außerdem trägt er ja noch ein Klappmesser in der Hosentasche. Den Mann im Rollstuhl wird dieser Tag beinahe das Leben kosten.

Ein Juniabend am Bahnhof Zoo in Berlin. Jener Ort, der 1978 traurige Berühmtheit erlangte, als das Buch "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" das Elend drogenabhängiger Kinder und Jugendlicher beschrieb. Seitdem ist es stiller geworden, ein sozialer Brennpunkt ist der Bahnhof noch immer. Heimat von Strichern, Junkies, Obdachlosen; ihnen will die dortige Bahnhofsmission helfen.

Helfen will auch Christian Mulzof. Er trägt Brille, Vollbart und dazu am liebsten einen Anzug. Und er sitzt im Rollstuhl. Sieben Jahre war er alt, als der Unfall geschah. Mulzof könnte verbittert sein und nur an das Bein denken, das er an jenem Tag verlor, knapp unter der Hüfte. Doch er denkt lieber an das Leben, das er behalten durfte, als er in den toten Winkel eines Lastwagens geriet. Der Lastwagen überfuhr den Jungen und schleifte ihn mit. Aber er tötete ihn nicht. "Irgendwann", sagt Mulzof, "muss man das, was man kriegt, wieder zurückgeben."

Plötzlich zieht er ein Messer aus der Tasche

Mit anderen Freiwilligen betreibt er das Projekt "Obdachlose sind Menschen wie wir". Wer keine Wohnung hat, nichts zu essen oder anzuziehen, den versorgen Mulzof und Kollegen mit heißem Kaffee, Suppe, Konserven und Kleidern. Mit einem Essenswagen ziehen sie durch Berlin; was übrig bleibt, überlassen sie der Bahnhofsmission. Auch an diesem Freitagabend ist Christian Mulzof dort. Auf der anderen Straßenseite sieht er drei Männer, sie streiten sich, einer wird geschubst.

Solche Auseinandersetzungen kommen öfters vor an diesem Ort, weiß Mulzof. Trotzdem rollt er über die Straße. Gleich soll die Essensausgabe in der Bahnhofsmission losgehen, er will fragen, ob die drei auch etwas wollen. Zwei machen sich davon, Sultan G. bleibt zurück. Er hatte von den beiden anderen ein Bier verlangt, aber nicht bekommen. Jetzt fragt er Mulzof nach Geld. Aber er will sich wohl keinen Kaffee davon kaufen. Sultan G. nimmt Kokain, kifft, trinkt, Heroin spritzt er sich angeblich nicht mehr. Zeitweise braucht er 100 Euro pro Tag. Eine Drogensucht ist kostspielig.

Wahrscheinlich rechnet Sultan G. nicht mit Gegenwehr, als er nach den beiden Scheinen greift. Doch er täuscht sich. Mulzof erhebt sich aus seinem Rollstuhl: Auf einem Bein stehend versucht er, sein Geld zurückzubekommen. Plötzlich zieht Sultan G. sein Messer aus der Tasche. Er hält es Mulzof an den Hals. Sinngemäß sagt er: "Wenn du mir nicht das Geld gibst, steche ich dich ab." Und: "Ich mag keine Behinderten." Mulzof gibt auf.

Der eine hilft, der andere stiehlt

Ein Zeuge informiert zwei Leute von der Bahnhofsmission. Sie eilen herbei und fordern Sultan G. auf, mitzukommen und auf die Polizei zu warten. Der gibt sich erst kooperativ. Dann rennt er los. Er schafft es noch durch den Tunnel, der unter den Gleisen hindurchführt. Aber der Mann von der Bahnhofsmission, der breite Oberarme hat und Tätowierungen bis zum Hals, ist ihm auf den Fersen. Auf dem Platz am Ende des Tunnels holt er ihn ein. Er packt Sultan G. und zwingt ihn zu Boden. Der droht, flucht, schimpft und zappelt. Doch befreien kann er sich nicht. Die Polizei nimmt ihn fest, seitdem sitzt er im Gefängnis. In der Nacht wird auf Alkohol getestet: Etwa 2,4 Promille muss er zur Tatzeit im Blut gehabt haben.

Im Gerichtssaal sehen sie sich wieder, und Christian Mulzof kann sich nicht entscheiden zwischen Hass und Mitleid. Denn der Krieg machte Sultan G. zum Flüchtling, als er noch ein Teenager war. Heute ist er obdachlos.

Der Angeklagte und der Geschädigte in diesem Prozess sind fast gleich alt: Mulzof 38, Sultan G. 39 Jahre. Beide hatten Pech im Leben. Der Täter hat früh seine Heimat verloren, das Opfer die Fähigkeit, sich auf den eigenen Beinen durch die Welt zu bewegen. Doch an dieser Kreuzung haben sie entgegengesetzte Wege eingeschlagen. Der eine hilft den Schwachen. Der andere bestiehlt sie.

Hier ein Smartphone, da ein Schminkspiegel

19 Mal ist Sultan G. schon verurteilt worden. Erst zu Jugendarrest, mal zu Geldstrafen, dann immer wieder zu Gefängnis. Für Fahren ohne Fahrerlaubnis, Körperverletzung, Raub, "exhibitionistische Handlung" und immer wieder Diebstahl - wie das Strafgesetzbuch sagt: gewerbsmäßigen Diebstahl. Besonders oft flog er auf, wenn er auf Rolltreppen seine Finger in fremde Taschen steckte und ein Smartphone herausfischte oder einen Schminkspiegel. Auch als er den Beutel einer alten Frau vom Rollator baumeln sah, griff er zu.

Sultan G. will vor Gericht keine Aussage machen. Nur seine Anwältin verliest in seinem Namen eine kurze Erklärung: Er habe nichts gestohlen, die 25 Euro in seiner Tasche seien nur Wechselgeld vom Alkoholkauf. Während des Prozesses lauscht der Angeklagte meist regungslos der Dolmetscherin an seiner Seite. Nur ab und an verziehen sich seine Lippen zu einem Grinsen. Ein Bild von ihm zeichnen und von dem Leben, das ihn zu dem gemacht hat, der er heute ist - das müssen andere: die psychiatrische Gutachterin und die Richterin, die aus vergangenen Urteilen vorliest. Mulzof sitzt während der gesamten Verhandlung hinten im Saal und hört still zu. Nur manchmal schüttelt er ungläubig den Kopf.

Erst in seinem Schlusswort bekennt Sultan G. in gebrochenem Deutsch: "Ich bin drogenabhängig." Er ist so klein, dass nur sein Kopf über die Balustrade reicht. "Es tut mir ganz viel Leid, die Strafsachen, die ich getan habe." Dieses Verbrechen aber habe er nicht begangen. Er wolle eine Therapie machen. Seine beiden Kinder wieder öfter sehen.

Das Messer bleibt verschwunden

Was sein Vater zu seiner kriminellen Karriere sagte, das erzählt Sultan G. nicht. Der war Polizist, ausgerechnet. Als 1992 der Krieg in Bosnien zu eskalieren drohte, floh der Vater mit der Familie nach Deutschland. So wie Hunderttausende andere, die Anfang der neunziger Jahre aus dem zerfallenden Jugoslawien entkommen wollten. Viele bekamen Asyl in der Bundesrepublik, Sultan G. nicht. Warum, darauf weiß auch seine Anwältin keine Antwort. Mehrmals wird er abgeschoben, kommt immer zurück, wird verurteilt für die illegale Einreise und schafft es doch irgendwie zu bleiben. Am Tag nach der Tat hätte er Deutschland wieder einmal verlassen müssen.

Nach der Festnahme beginnt die Suche nach der Waffe. In Sultan G.s Taschen steckt sie nicht mehr, dafür ein Zwanzig- und ein Fünf-Euro-Schein. Also durchkämmen Bahnsicherheitsleute und Polizisten die Umgebung. Doch das Messer wird nie gefunden. Sultan G. hat es bei seiner Flucht weggeworfen, meint das Gericht. Die beiden Richter und die Schöffen glauben am Ende Mulzof.

Als das Urteil verkündet wird, versteinert Sultan G.: Drei Jahre und drei Monate Haft wegen räuberischen Diebstahls. Die Zeiten, in denen seine Strafen noch zur Bewährung ausgesetzt würden, sind vorbei. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Wird Sultan G. Revision einlegen? "Ganz sicher", sagt seine Anwältin. Trotzdem hat Mulzof Tränen in den Augen, Tränen der Erleichterung. Er ist vorsichtiger geworden, misstrauischer. Trotzdem will er weiter denen helfen, die Hilfe brauchen. Und hofft, dass er das Pfefferspray nie brauchen wird, das er seit jenem Junitag immer in der Tasche trägt.

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