Die Anklage ist alles andere als alltäglich: Drei Morde und zwei Mordversuche sollen auf das Konto von Dirk P. gehen, einem 38-jährigen gelernten Krankenpfleger und Grundschulreferendar. Innerhalb von drei Wochen soll er in Berlin fünf Menschen mit "Liquid Ecstasy" vergiftet haben. Drei von ihnen starben, einer der Toten wurde im Darkroom einer Schwulenbar gefunden.
Zwei Opfer hatten Glück: Eines wurde noch rechtzeitig ins Krankenhaus gebracht, dem anderen schmeckte das mit dem Gift versetzte Wasser nicht. Dabei soll es der Angeklagte auf die Geldbörsen seiner Opfer abgesehen haben. Sieben Mal habe Dirk P. versucht, mit den gestohlenen Geldkarten Bahnfahrkarten zu kaufen oder Geld abzuheben, so die Anklage. Drei Mal klappte es. Habgier nennt die Staatsanwaltschaft als ein Motiv für die Taten. Doch ermordet man so drei Menschen für ein paar hundert Euro?
Bereits an den beiden vorangegangenen Verhandlungstagen, an denen die Anklage verlesen und die Biografie des Angeklagten skizziert wurde, deutete sich an, dass Lüge und Selbstbetrug ein bekanntes Muster im Leben von Dirk P. gewesen sind. Von einem gefälschten Abitur-Zeugnis war die Rede, genauso wie von einer erschlichenen Arbeitsbescheinigung. Am heutigen Verhandlungstag versuchte P. den Prozessbeobachtern nunmehr weiszumachen, er habe seinen 34-jährigen Bekannten Alexander M. im April aus Versehen vergiftet. In Wahrheit habe einen sexuellen Rausch mit ihm erleben wollen.
"Ist es richtig, was in der Anklage steht", fragt der Vorsitzende Richter den kleinen, leicht gebeugt laufenden Angeklagten. "Nein", antwortete dieser und schüttelt sanft den Kopf. Langsam, über Umwege, robbt P. sich in seinen Ausführungen an seine Tat heran, erzählt erst mal vom Sommer 2011, als er in einem Supermarkt das erste Mal Zigaretten stahl. Danach habe er sich euphorisch gefühlt. "Es war ein kurzer Moment innerer Zufriedenheit." Fortan habe er immer wieder Kleinigkeiten aus Läden mitgehen lassen, aber auch Menschen bestohlen. "Ich habe überlegt, was die Ursache sein könnte. Ich habe es nicht einordnen können. Ich konnte weder meinem Freund noch meiner Familie sagen, dass ich ein gutes Gefühl beim Sachenklauen habe."
Auf Cruising-Plätzen nach Sexpartnern gesucht
Dirk P. spricht auch von seinen Schwierigkeiten, Sex außerhalb der Beziehung zu seinem langjährigen Freund zu haben, obwohl sie sich diesen gegenseitig gestattet hätten. "Aber die Situation entsprach nicht dem, wie ich mir die Beziehung vorgestellt habe. Ich wollte eine klassische monogame Beziehung."
Er habe immer wieder im Internet und auf den stadtbekannten Cruising-Plätzen Sex-Partner gesucht. Er habe Druck abbauen wollen, der aus beruflichem und privatem Stress resultiert hätte. Nach dem Sex habe er immer Ekel und Scham gegenüber seinem Freund empfunden, dem er diese Kontakte nicht habe beichten können.
Im Januar 2012 schließlich habe er in einem Park einen Mann kennen gelernt, mit dem er sich 15 Milliliter Liquid Ecstasy geteilt habe, eine Droge, die auch unter dem Namen K.O-Tropfen bekannt ist. Er habe die aphrodisierende Wirkung genossen: "Der Kopf war ganz leer, ich habe alles andere ausgeblendet, mich nur auf den Sex konzentriert, die Kälte nicht gespürt." Im März 2012 habe er das Präparat dann selbst im Internet erworben. Dabei habe er auch eine Erklärung unterschrieben, dass bereits vier Milliliter der Droge tödlich wirkten.
Zehn Milliliter Liquid Ecstasy ins Glas gekippt
Einen Monat später, so schildert es Dirk P. vor Gericht, besuchte er seinen Bekannten Alexander M. Anschließend habe er sich zu einem Cruising-Platz begeben wollen, er wollte sich mit jemandem das Liquid Ecstasy teilen. Stattdessen habe sich Sex mit seinem Bekannten ergeben, obwohl dieser ein Freund seines Freundes gewesen sei. Nach dem Oralverkehr hätte er sich und seinem Opfer - von dem er wusste, dass er keine Drogen nimmt - jeweils zehn Milliliter in ein mit Wasser gefülltes Glas gekippt. Er habe gehofft, der andere würde die Wirkung der Droge positiv werten und ihm deshalb auch verzeihen, dass er sie ihm heimlich ins Glas geschüttet hat.
Nachdem Alexander M. das Glas hastig geleert habe, sei er müde geworden und habe sich in sein Bett gelegt. Dirk P. verließ die Wohnung, jedoch nicht ohne den Rucksack, das Handy und das Portemonnaie des Sterbenden an sich zu nehmen. Auf dem Heimweg habe er alles weggeworfen - bis auf eine Jacke und die Kreditkarte. Mit dieser löste er am nächsten Morgen eine Fahrkarte und reiste zu seiner Familie, in ein Dorf nahe Saarbrücken. Er habe gehofft, dass sich Alexander M. bei ihm oder bei seinem Freund melden und fragen würde, warum er ihn bestohlen habe. "Ich wollte, dass von außen jemand Einfluss nimmt und mich dazu zwingt, das zu bearbeiten", sagt Dirk P. "Das" ist die Lust am Stehlen.
Doch niemand rief an. Erst zehn Tage später will er vom Tod seines Opfers erfahren haben und diesen auch nicht sofort in Verbindung mit dem Liquid Ecstasy gebracht haben, obwohl er zu diesem Zeitpunkt bereits zwei weitere Mordanschläge verübt hatte.
Die Ausführungen des Angeklagten stoßen auch beim Gericht auf Skepsis. Ein beisitzender Richter benötigt fast eine Stunde, um Dirk P. auf alle Widersprüche aufmerksam zu machen, die zwischen dem ersten und dem heutigen Geständnis liegen. Der Angeklagte behauptet, unter Schock gestanden zu haben, von der Polizei unter Druck gesetzt worden zu sein oder sich nicht mehr erinnern zu können.