Karl B. humpelt nach Hause, im Schlepptau sein lädiertes Fahrrad. Wie fast täglich hatte der 50-Jährige eine Fahrradtour unternommen, nur wählte er diesmal statt seiner üblichen Route die steile Abfahrt in die Schlucht - und verlor prompt die Kontrolle über sein Fahrrad. Die Folgen: Schürfwunden an den Armen, ein geprelltes Knie und Kratzer im Gesicht. Auf die erschrockene Frage seiner Frau, wie er denn auf die Idee gekommen sei, die ansonsten sorgsam gemiedene Strecke zu nehmen, antwortet B.: "Wieso? Ich hatte doch einen Helm auf!"
Intuitiver Drang, gewonnene Sicherheit sofort wieder aufs Spiel zu setzen
Der glücklose Radfahrer ist hier einem Verhaltensmuster zum Opfer gefallen, das bereits vielen Autofahrern, Sportlern und anderen zum Verhängnis geworden ist: der Neigung des Menschen zur Risikokompensation, also dem intuitiven Drang, gewonnene Sicherheit sofort wieder aufs Spiel zu setzen. Beobachten könne man dies schon bei Kindern, berichtet das Magazin "bild der wissenschaft" in seiner Juli-Ausgabe: Die Eltern erlauben ihnen mehr, wenn sie Schutzkleidung tragen, und folgerichtig werden sie unvorsichtiger, sobald sie mit Helm, Knieschonern oder Handschuhen ausgestattet sind - sie rennen schneller, wagen höhere Sprünge und lassen sich auf riskantere Aktionen ein.
Doch auch Menschen, die im Beruf häufig mit einer nicht zu verachtenden Verletzungsgefahr umgehen müssen, fallen auf die Risikokompensation herein. So verringerten sich bei Holzarbeitern in Finnland zwar die Verletzungen an Augen, Kopf, Händen und Füßen nach der Einführung von Sicherheitsstiefeln, Handschuhen, Helmen und Schutzbrillen - die Gesamtzahl der Verletzungen nahm aber kaum ab. Der Grund: Die Holzfäller arbeiteten schneller und weniger sorgfältig, wie sie selbst zugaben, und trugen dadurch mehr Verletzungen an den ungeschützten Körperteilen davon.
HIV-Infektionsraten steigen
Die Liste lässt sich fast beliebig erweitern: Fahrer von schweren Geländewagen etwa schnallen sich weniger an und telefonieren sehr viel häufiger während der Fahrt, im American Football und im Eishockey sind die Spiele seit der Einführung von Schutzausrüstungen rauer geworden und Lkw-Fahrer bleiben noch länger am Steuer, wenn sie wissen, dass sie von einem Übermüdungssensor überwacht werden.
Bedenklich wird es immer dann, wenn andere durch die Risikokompensation gefährdet werden. Das ist beispielsweise bei Infektionen mit HIV der Fall. Hier bereitet das riskantere Verhalten der von Aids besonders gefährdeten Menschen den Medizinern besonders viele Sorgen: Seitdem es die antiviralen Medikamente gibt, die das Leben der Infizierten verlängern, steigt auch die Infektionsrate nach einem Minimum zur Jahrtausendwende stetig an - und das so stark, dass jedes Jahr ein neuer, trauriger Rekord erzielt wird.
Sicherheitsmaßnahmen provozieren gefährliche Verhaltensweisen
In all diesen Fällen bewirkte eine Verstärkung der Sicherheitsmaßnahmen das genaue Gegenteil von dem, was beabsichtigt war - sie provozierte neue, gefährliche Verhaltensweisen, so dass das Verletzungsrisiko, wenn überhaupt, nur geringfügig absank und in vielen Fällen sogar stieg. Doch es gibt auch Strategien, mit denen der Hang zum Risiko ausgetrickst werden kann. Bei technischen Neuerungen etwa ist es oberstes Gebot, nicht viel Aufheben darum zu machen, schreibt "bild der wissenschaft". Sicherheitsglas im Auto etwa ist so selbstverständlich, dass es niemanden zum draufgängerischen Fahren verführt - im Gegensatz zum ABS, das nach seiner lautstarken Einführung eine ganze Reihe gewagter Bremsmanöver provozierte.
Eine andere Möglichkeit ist es, Anreize für risikoarmes Verhalten zu schaffen. Dass das funktioniert, sieht man beispielsweise in der Unfallstatistik: Ganz junge Autofahrer fahren zwei Jahre lang äußerst vorsichtig - genau so lange, wie ihre Probezeit dauert. Danach schnellt die Zahl der Unfälle steil in die Höhe. Dauerhafter ist die Lösung aus Norwegen, wo Führerscheinneulinge einen Teil ihrer Versicherungsbeiträge zurückbekommen, wenn sie unfallfrei fahren. Mit dem gleichen Prinzip hat auch ein großer Nahrungsmittelkonzern die Zahl der Unfälle bei seinen Lkw-Fahrern gesenkt: Sie bekommen nach sechs Monaten ohne Unfall eine Prämie.
Ganz abgewöhnen lässt sich den Menschen die Lust am Risiko aber auch damit nicht. Einige Wissenschaftler vertreten sogar die Theorie, dass es für jeden einen persönlichen Risiko-Sollwert gibt, den man - unbewusst oder bewusst - mit allen Mitteln zu erreichen versucht. Sobald das eigene Lebensrisiko also sinkt, etwa weil ein Berufswechsel stattgefunden hat, sucht man sich einen Ausgleich, zum Beispiel eine riskante Sportart. Diese Interpretation ist unter Wissenschaftlern zwar umstritten - im Volksmund ist sie jedoch alt bekannt, so sagt er doch: "Wenn es dem Esel zu wohl wird, geht er aufs Eis".