Das Mittelalter war eine raue Zeit. Besonders auf der See. Zwischen dem Ende des 14. und Beginn des 15. Jahrhunderts legten Piraten, Vitalienbrüder genannt, zeitweilig den Handel auf der Ost-und Nordsee lahm. Mit kleinen Schiffen jagten sie die Hansekoggen und enterten die Opfer. Zahlreiche Legenden umranken diese Zeit. Der Kampf der Freibeuter gegen den mächtigen Bund der Hansestädte begeistert die Menschen bis heute. In allen Geschichten wird ein Name genannt: Störtebeker.
Er gilt als Robin Hood der Meere, der den reichen Kaufleuten, den Pfeffersäcken, nahm und den Armen gab. Doch Fakten gibt es wenige. Der Vorname Störtebekers ist nicht gesichert, seine Geburtstadt ungewiss, seine Herkunft unbekannt und selbst der Nachnahme könnte ein Deckname gewesen sein. Hamburger Historiker wollen nun für Klarheit sorgen. Sie glauben, Störtebekers Schädel gefunden zu haben. Mit kriminalistischen Methoden ließen sie ein zu den Knochen passendes Gesicht herstellen. Doch sah Störtebeker wirklich so aus: Hatte er blaue Augen, kupferfarbene Haare und einen Rauschebart? Zweifel sind angebracht.
Wissenschaftler vom Museum für Hamburgische Geschichte und ein Team von Spiegel TV präsentierten die Rekonstruktion des Gesichts aus Kunstharz. Sie wurde nach einem 600 Jahre alten Schädel angefertigt, der auf dem Hamburger Grasbrook an der Elbe, der ehemaligen Hinrichtungsstätte der Freien- und Hansestadt, gefunden wurde. Hier soll der legendäre Pirat hingerichtet worden sein. Belegt ist das nicht. Chronisten berichten viele Jahrzehnte später, dass Störtebekers Schiff von Hamburger "Vredekoggen" (so wurden zu Kriegsschiffen umgebaute Handelskoggen genannt) aufgebracht und die Besatzung nach langem und blutigem Kampf gefangen genommen wurde.
Blond und blauäugig
Die französische Künstlerin Elisabeth Daynès hatte den Kopf nach Vorgaben der Wissenschaftler angefertigt. Bei der Wahl der Haarfarbe sei Kreativität gefragt gewesen. Bei einem Norddeutschen hätte sie aber schwarze Haare ausschließen können, sagt Daynès. Die Herstellung der Augen sei am schwierigsten gewesen, erzählt die Künstlerin. "Es ist sehr kompliziert, den Blick gut hinzubekommen, dem Kopf einen intelligenten und durchdringenden Ausdruck zu geben. Damit verbringe ich die meiste Zeit." Doch auch ihr leuchtendes Blau ist in der Fantasie Daynès entstanden.
Faszination über Jahrhunderte
Auch heute zieht der Name Störtebekers die Menschen in seinen Bann. Jährlich erscheinen neue Romane zur Zeit der Viatlienbrüder. In mehreren norddeutschen Städten gibt es Störtebeker-Festspiele. Auch Spiegel-TV will diese Begeisterung nutzen. Das TV-Magazin hatte die Rekonstruktion in Auftrag gegeben und einen Film über die Recherche der Historiker gemacht.
"Sicher ist, dass es sich bei dem Schädel um den eines Freibeuters handelt", sagt Mittelalterfachmann Ralf Wiechmann vom Museum. Er zitiert das Recht der Stadt Lübeck, das auch in Hamburg angewendet wurde. "Das Lübische Recht schreibt vor, dass man Piraten den Kopf abschlagen und den Schädel aufnageln muss." Diese Trophäe wurde dann an der Elbe aufgestellt, um einerseits die Kaufleute vor den Gefahren auf der See zu warnen und anderseits die Seeleute vor dem Piratentum abzuschrecken. Es war gängige Praxis, dass die Besatzungen von gekaperten Schiffen zum Dienst auf Piratenschiffen gezwungen wurden.
Wiechmann war fast zufällig auf den Schädel gestoßen. Bei einer Strukturierung der mittelalterlichen Sammlung beschäftigte er sich mit zwei Schädeln, die seit 1878 im Besitz des Museums sind. In den Schädeln stecken lange, rostige Nägel. Dies und ihr Fundort auf dem Grasbrook hatten schon Historiker im 19. Jahrhundert auf Piratenschädel tippen lassen. Der studierte Archäologe wollte sich aber nicht mit Mutmaßungen abfinden. Das Museum ließ das Alter bestimmen. "Eine Altersbestimmung mit der C-14 Methode an der Universität in Oxford ergab, dass die Schädel aus der Zeit zwischen 1390 und 1450 stammen", berichtet Wiechmann. "Dann haben sich Experten die Schädel ganz genau angeschaut und bei einem ist ihnen etwas Besonderes aufgefallen." Der Kopf hatte eine Sonderbehandlung erfahren. Der Scharfrichter hatte ihn nicht einfach auf einen Pfahl genagelt, er war so präpariert worden, dass der Schädel nicht beschädigt wurde. Er sollte wohl der Nachwelt erhalten bleiben. "Wir glauben, dass eine hohe Persönlichkeit enthauptet wurde. Es kann sich eigentlich nur um Störtebeker oder Godeke Michels handeln. Auf jeden Fall um eine Freibeuterpersönlichkeit", versichert Wiechmann. Doch betont er: "Es gibt keinen absoluten Beweis".
Keine Beweise
Nüchtern betrachtet gibt es gar keinen Beweis. Die Geschichtswissenschaftler haben eine Indizienkette geknüpft, haben einzelne Fakten gesammelt, die zusammen ein passendes Bild ergeben können – oder auch nicht. Vorsicht ist angebracht. "Wir spinnen die Geschichte weiter", sagt Wiechmann. Er hofft auf weitere naturwissenschaftliche Methoden, die endgültige Klarheit bringen sollen. "Dieses Problem können wir nur interdisziplinär lösen", sagt er. "Wir arbeiten mit dem Universitätsklinikum Eppendorf und Gerichtsmedizinern zusammen." Aus dem Schädel soll DNA-Material gewonnen werden, das dann mit Speichelproben von möglichen Nachfahren des Freibeuters verglichen wird. "Es gibt noch etwa 40 Menschen in Deutschland, die Störtebeker heißen", sagt Wiechmann begeistert. "Wenn man da Übereinstimmungen hat, dann haben wir ihn!"
Doch bis dahin ist es ein weiter Weg, denn noch liegt keine Störtebeker-DNA vor und ob die Gewinnung klappt, ist nicht sicher. Solange ist das Aussehen des Piraten weiterhin unklar. Schon einmal hatte man geglaubt, ein Bild des Piraten zu haben. Doch der Künstler David Funck, der im 17. Jahrhundert ein Kupferstich von "Claus Stürz den Becher" unter das Volk brachte, hatte das Bild von einem Kollegen geklaut, der einen Adeligen gezeichnet hatte. Störtebeker bleibt also Mythos und es ist jedem Interessierten überlassen, sich ein eigenes Bild des Freibeuters zu machen.