Sie können sich diesen Text auch vorlesen lassen:
An einem Samstagmorgen um halb sieben drohe ich Ewa* mit der Polizei. Sie sitzt in meinem Garten und sieht aus wie ein Gespenst, ihr Blick starr, ihre Pupillen geweitet. "Bitte", sagt sie, "kann ich ein Glas Wasser?" Ihre Lippen sind trocken und rissig, ihr Körper ist abgemagert. Seit Tagen habe ihre Mutter kaum noch gegessen und getrunken, hat mir ihre Tochter Natalja* per Whatsapp geschrieben.
Ewa leidet unter einer akuten Psychose. Sie hat Wahnvorstellungen und fühlt sich von ihrer Tochter und ihrem Ex-Mann verfolgt. Sie irrt durch die Straßen auf Ausschau nach einem Zufluchtsort. Ihre Suche wird sie in den folgenden Wochen zur Frauenbeauftragten der Stadt führen, zur Obdachlosenunterkunft, zu uns. Schon bald wird sie keine türkisfarbenen Socken und weißen Ballerinas mehr tragen wie an jenem Samstagmorgen, sondern barfuß über den Asphalt laufen, nachts, im Regen, im dünnen Sommerkleid. Sie wird sich nicht mehr waschen. Die Tochter wird viermal die Polizei rufen und dreimal die Ärztinnen vom Sozialpsychiatrischen Dienst. Sie alle sagen, dass Ewa schwer krank sei und Hilfe benötige. Aber da sie weder sich noch andere in Gefahr bringe, da sie behaupte, es gehe ihr gut, und sage, sie laufe barfuß, weil sie die Natur liebe, könne man sie nicht in eine psychiatrische Klinik einweisen.
In diesem Sommer lerne ich: In Deutschland haben Menschen das Recht, in Wahnvorstellungen abzugleiten, herumzuirren, sich finanziell zu ruinieren, die Beziehungen zu den Liebsten zu zerstören.