Gletschertour in den Alpen Hochseilakt in die Eiszeit

Von Katja Trippel
Steil ist der Hang, und unter Schneefeldern lauern Abgründe. Als Teil einer Seilschaft wagen sich Autorin und Fotograf zum ersten Mal auf einen Gletscher und meistern einen Dreitausender in Tirol.

Mein Leben hängt an einem Seil, gelb-lila, fingerdünn. Verdammt dünn dafür, dass es das Einzige ist, was mich in dieser Gletscherspalte mit der Außenwelt verbindet! Wie ein Mehlsack baumle ich zwischen blau schimmernden Eiswänden und versuche, meine Steigeisen irgendwo festzukrallen. Doch ich rutsche ab, auch mit den Händen, das Eis ist glattpoliert vom Schmelzwasser, das in die Tiefe rinnt. Wie tief eigentlich? Ich gucke nach unten und lieber wieder hoch zum Seil, es wird ja wohl bitte halten.

Mein "Einsturz" ist nur simuliert. Draußen stemmen sich vier meiner besten Freunde als Seilschaft gegen die Schwerkraft, die an mir zerrt. Schließlich schaffe ich es, meine Fußspitzen ins Eis zu bohren. "Alles gut?", ruft Bernhard, der Bergführer, seine Stimme klingt entfernt, aber enorm beruhigend. "Ja!", brülle ich zurück, "Rettung kann losgehen!"

"Hände weg vom Seil!", erinnert mich Bernhard, befiehlt "eins, zwei, drei, hopp!", und schon ruckt das Seil samt mir Richtung Tageslicht. Sieben "hopps" später kann ich mich über die Spaltenkante hieven.

Bunte Mischung am Seil

Um niemals erleben zu müssen, was wir gerade geprobt haben, eine Gletscherspalten-Bergung, sind meine Freunde und ich auf den Jamtalferner in die österreichische Silvretta gereist, zu einem "Gletschertour-Schnupperkurs" des Alpenvereins. Unser Ziel: Die 3114 Meter hohe Gemsspitze, die von Dutzende Meter dickem Eis umzingelt ist.

Der Gipfel überragt das Jamtal, eines der wenigen Hochgebirgstäler der Silvrettagruppe, das von Skiliften, Stauseen und Strommasten verschont geblieben ist. Unten, zwischen dem Örtchen Galtür und drei Käsealmen, leuchtet es grün und saftig. Ab Höhe der Jamtalhütte bedeckt mehr und mehr Moränengeröll das Terrain, bis ab 2500 Metern der grau-weiße Gletscherpanzer die Kulisse dominiert. In Gipfelnähe, Richtung Schweiz, soll sich der Blick in die gesamten Rätischen Alpen öffnen. Fantastische Aussichten also, wenn die Gruppe es hoch schafft. Doch daran hegt Bernhard, wie er mir heimlich mitteilt, gewisse Zweifel.

Übernommen aus

Geo Saison, Juni 2013, ab sofort für 6 Euro am Kiosk. Im Heft finden Sie auch die vollständige Reportage von Katja Trippel und den ausführlichen Serviceteil.

Eine Profi-Seilschaft sieht nämlich anders aus. Zwei unserer sieben Mitstreiter, ein Franzose aus der Südsee und ein Flensburger, haben noch nie einen Schritt ins alpine Hochgebirge gesetzt. Meine Namensvetterin Katja und ich kraxeln zwar häufiger, mit flinken Gämsen hat uns allerdings noch keiner verwechselt. Fotograf Hardy ist hochmotiviert, kommt aber verdächtig schnell ins Schwitzen. Nur Markus gilt als Gipfelstürmer mit guter Puste.

Bernhard beginnt unser Training langsam. Am ersten Tag übt er mit uns "Gehen im weglosen Gelände". Auf dem Weg von der Jamtalhütte zum Gletscher liegt Geröll, das vom schmelzenden Eis freigegeben wurde. "Je chaotischer das Terrain, umso bewusster musst du deine Schritte setzen", rät Bernhard unserem Flensburger, der noch ein wenig unsicher über das Geröll stakst. Katja empfiehlt er: "Wenn du Angst kriegst, geh langsamer, sonst kommst' erst recht ins Straucheln. Im Berg steuert die Psyche die Motorik." Abends bekommen wir Steigeisen, Helme, Eispickel und Sicherungsgurte verpasst. Wir lernen Sackstich und Prusik, Knoten für die Sicherung; dann darf sich jeder testweise ans Seil hängen. "Geht sich alles fein aus?", fragt Bernhard. Wir nicken, klar doch.

950 Höhenmeter bis zum Gipfel

Am nächsten Morgen jedoch verheddere ich mich im Klettergurt. Katja muss mich befreien. Und kaum gehen wir unsere ersten Schritte auf Eis, verfängt sich Markus' Steigeisen, er knallt hin und schlittert ein paar Meter gletscherabwärts. "Klassischer Fehler", sagt Bernhard, "die meisten Stürze passieren, weil die Eisen nicht richtig fixiert sind. Also passt's mir ja auf!"

Gute drei Stunden trainieren wir mit den Spikes bergauf und bergab sowie im Charlie-Chaplin-Stil quer zum Hang zu marschieren. "Was mit so ein bisschen Material alles möglich ist", staunt der Flensburger, während er sich in ungewohnte Steillagen wagt. Markus wiederum beweist Mut, indem er sich als Erster in die Gletscherspalte fallen lässt, gesichert natürlich. Und wir, seine Seilschaft, lernen: Da kommt ordentlich Zug aufs Seil, und es ist lebenswichtig, stets den richtigen Abstand zum Vordermann zu wahren. Ohne Vorwarnung hätte Markus' Gewicht die halbe Seilschaft umgeworfen, und er wäre tief gestürzt.

Halb euphorisch ob der neu erlernten Kniffe, halb eingeschüchtert beginnen wir nach den abendlichen Kässpätzle, die Route zur Gemsspitze zu planen. 950 Höhenmeter sind es bis zum Gipfel, macht mit Pausen und Abstieg sechs Stunden, rechnet Bernhard uns vor. Und fügt mit ernster Miene hinzu: "Wer eine Gletschertour plant, muss unbedingt Energiereserven für den Abstieg einkalkulieren. Wenn ich morgen merke, dass einem von euch beim Aufstieg die Kraft ausgeht, werden wir alle umkehren. Kein Gipfel der Welt ist es wert, ein Risiko einzugehen.

"Du schaffst es nicht mehr runter, wenn du dich weiter verausgabst"

Entsprechend konzentriert stapfen wir am folgenden Tag los. Erst über Geröll, dann über Eis. In der Neuschneezone legt uns Bernhard ans Seil, denn keiner weiß, was sich unter der weißen Decke verbirgt. Es geht steil aufwärts, die Sicht wird immer gigantischer. Und ich komme ins Schwitzen, fast alle haben rote Bäckchen vor Anstrengung, Hardys Gesicht hingegen changiert von Puterrot bis Leichenblass, er ist schweißnass vom Hin- und Herspringen mit der Kamera.

Infos zur Gletschertour

Den Eiskurs buchten wir beim Summit-Club des Deutschen Alpenvereins (DAV), und dank des Bergführers haben wir viel gelernt. Vor allem, dass eine Gletscherüberquerung kein Spaziergang ist, sondern mit erheblichen Risiken verbunden sein kann. Eine gute Grundkondition ist unbedingt nötig. Der Preis: 7 Tage/HP ab 680 Euro, inkl. Guide.

Bernhard bittet ihn, mit dem Fotografieren zu pausieren, bis wir oben angelangt sind, aber Hardy will nicht: "Nur noch eine Einstellung!" Bernhard wird streng. "Du schaffst es nicht mehr runter, wenn du dich weiter verausgabst, pack zusammen!" Hardy bockt weiter und hat prompt die ganze Seilschaft gegen sich: "Wir wollen auf den Gipfel", schimpfen Katja und der Flensburger im Duett. Markus und ich versuchen es mit Zureden: "Oben kriegst du viel bessere Fotos." Schließlich gibt er auf, gerade noch rechtzeitig, bevor Bernhard uns alle zurückgeschickt hätte.

Auf dem Gipfel der Gemsspitze

Als wir eine halbe Stunde später den Gipfel erreichen, ist der Streit vergessen und das Panorama grandios. Die Sonne lässt das Gletschereis wie einen riesigen Diamanten glitzern. Selbst unser Bergführer scheint versöhnt, er verteilt Schokolade, dann drängt er zum Abstieg. Meter um Meter erobern Fauna und Flora die Landschaft zurück. Murmeltiere pfeifen aus Felshöhlen, Moos, Flechten und rosafarbener Steinbrech mischen sich ins Geröll. Kaum endet das Eis, beginnt die Luft nach Erde und Blüten zu duften. Sind wir berauscht, oder haben die Stunden im lebensfeindlichen Eis unsere Sinne geschärft?

Wie geplant, kommen wir gegen halb vier an der Jamtalhütte an, Hardy als Letzter. Die schönsten Fotos, sagt er, seien dort entstanden, wo wir ihn zurückgepfiffen hätten. Bernhard schlägt ihm auf die Schulter: "Gerade nochmal gut gegangen!" Und der Hüttenwirt belohnt unsere tapfere Seilschaft mit dem weltbesten Kaiserschmarrn.

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