Katakomben Hinter den Kulissen von Paris

Von Peter Linden
Totenköpfe, Knochen und Moder üben auf Pariser Touristen eine magische Anziegungskraft aus. Mehr als 200.000 Besucher jährlich lassen sich auf eine schaurig-schöne Untergrundtour in die Katakomben entführen. Die stürzen auch gerne mal ein.

Der Herr der Totenköpfe flüstert. Kein lautes Wort entspringt Jean-Pierre Willesmes Mund, auch beschleunigt er seine Sätze nicht oder drosselt das Tempo. Als würden ihn die 200.000 Totenköpfe lähmen und die Millionen von Knochen, die er zu verwalten hat: Immer spricht Jean-Pierre Willesme in derselben Monotonie. Dass seine Verwaltung neue Stromleitungen in den Katakomben unter dem Bahnhof von Denfert-Rochereau verlegt hat. Dass in diesen Gängen die letzten Fliehenden der Pariser Kommune nieder geschossen wurden. Dass manchmal die Decke bröckelt und gestützt werden muss. Dass die Touristen fast jeden Tag Totenköpfe stehlen, und man sie deshalb jetzt mit Zement festklebt. Dass die Pariser früher unterhalb ihrer Straßen Kalkstein abgebaut haben für die Häuser und Paläste darüber. Was Jean-Pierre Willesme auch erzählt: er flüstert.

Es muss ein hartes Los sein, jährlich 200.000 Touristen ebenso viele Totenköpfe zu zeigen, über 20 Jahre hinweg, so lange ist Jean-Pierre Willesme schon "Conservateur des Catacombes". Mehrmals täglich die 120 Stufen einer Wendeltreppe in die Tiefe zu steigen, 1,7 Kilometer Gänge zu durchschreiten, meist im Gänsemarsch, die Hälfte der Strecke vorbei an Knochen und Totenköpfen. Vorbei an soliden Mauern aus den Gelenk-Enden von jeweils acht Schichten Knochen plus einer Schicht Totenköpfe, in waagerechten Linien, bis unter die Decke. Vorbei an Mauern aus jeweils acht Schichten Knochen plus einer Schicht Totenköpfe in Wellenlinien, bis hinauf unter die Decke. Vorbei an Wänden aus Knochenenden, die von mannshohen Kruzifixen gebrochen werden, Kruzifixen aus Totenköpfen. Oder vorbei an Wänden aus Knochenenden, aus denen Totenköpfe in Form gotischer Portale herausragen. Manchmal umkreisen die Knochen auch die Stützpfeiler kleiner Krypten mit Altären aus Kalkstein. Die Stützpfeiler sind dann an beliebigen Stellen mit Totenköpfen durchsetzt.

Die Verbannung des Sterbens

Die Geschichte der Katakomben von Paris ist auch die Geschichte der Verbannung des Sterbens aus dem Alltag. 1785, kurz vor der Revolution, fiel der Beschluss, dass man die namenlosen Toten nicht mehr sehen und nicht mehr riechen wollte. Der erste Massen-Friedhof, der aufgelöst wurde, war der Friedhof der "Innocents" im Bereich der heutigen Hallen. Kurze Zeit später wurde nach einem Einsturz der Rue d'Enfer der Abbau von Kalkstein im Stadtgebiet verboten. In der Folge begann man, die Gebeine von nahezu sämtlichen Friedhöfen in die frisch gesegneten, ehemaligen Bergwerksschächte zu transportieren. Sechs Millionen Menschen, das Dreifache der Gesamtbevölkerung von Paris, liegen unter der Stadt begraben, die meisten in Jean-Pierre Willesmes Katakomben.

Es ist ein seltsamer Spaziergang, den die 200.000 Touristen aus aller Welt hier unternehmen. Die Katakomben sind ein Ort der Andacht und des Massentourismus zugleich, ein sakraler Ort größter Banalität, ein Ort für große Gefühle, aber ohne Geräusche, ohne Gerüche, ohne jede Sinnlichkeit. Die Überreste von sechs Millionen Menschen: Wände, Ornamente, barocke Spielerei. Dazwischen Tafeln mit Sinnsprüchen zum Sterben, die kaum jemand lesen will im großen Gedränge: "Glücklich derjenige, der die Stunde seines Todes noch vor sich hat und sich doch ständig auf das Sterben vorbereitet." Oder: "Oh Tod, wie sehr ist Dein Urteil doch erfüllt von Gerechtigkeit."

Informationen

Die Besichtigung der Katakomben ist täglich von 9.30 Uhr bis 17.00 Uhr möglich (letzter Einlass um 16.00 Uhr). Wer eine geführte Tour möchte, sollte sich vier Wochen vorher anmelden.

CATACOMBES DE PARIS

1, avenue du colonel Rol-Tanguy
Paris, 75014 France
Telefon: +33 1 4322 4763

Seltsame Orgien im Bauch der Stadt

Bald nach der Verlegung ihrer Toten in den Untergrund, fingen die Pariser an, sich für diesen Untergrund zu interessieren. 1830 wird zum ersten Mal von illegalen Eindringlingen berichtet, von Beschädigungen und obskuren Veranstaltungen, woraufhin die Katakomben bis 1874 komplett verschlossen bleiben. Im November 1955 publiziert der Polizeipräsident einen Erlass, wonach niemand ohne Erlaubnis durch irgendeinen der 373 Eingänge in die Pariser Katakomben und Kanäle eindringen dürfe, bei einer Strafandrohung von 600 Francs. Ab 1970 berichtet die Presse immer häufiger von seltsamen Orgien im Bauch der Stadt, in den Achtziger Jahren bildet die Polizei eine Sondereinheit zur Jagd auf so genannte Kataphilisten, Freunde der Unterwelt. 250 Personen werden als "Unverbesserliche" in den Polizeicomputern geführt und entsprechend überwacht.

Keine Chance, in Jean-Pierre Willesmes Reich einzudringen, alle Eingänge sind vergittert oder zugemauert. Doch anstatt Schaden von den Toten abzuwenden, drohte den Massengräbern plötzlich das Ende. Mit jedem verstopften Eingang ging die Luftzirkulation zurück und es stieg die Luftfeuchtigkeit. Die Knochen und Schädel, die 200 Jahre lang unversehrt unter der Avenue du Général Leclerc und der Avenue René Coty lagerten, begannen zu verrotten. Bis 1995 eine teure Klimaanlage installiert wurde, die das Reich der Toten und der Touristen nun sogar erstaunlich warm hält.

Eingänge zuzumauern oder zu vergittern, Gullideckel einzubetonieren anstatt nur aufzulegen - mit derlei Maßnahmen hat die "Inspection des Carrières", die Verwaltung der Steinbrüche von Paris, auch den Kampf gegen illegale Festivitäten an anderer Stelle aufgenommen. Längst veraltet sind jedenfalls Führer wie "A la Découverte des Souterrains de Paris", "Le Cataphile" oder der "Atlas du Paris souterrain", mit denen Menschen mit entwickeltem Orientierungssinn sich eigenständig auf den Weg machen konnten. Unter Pariser Studenten zirkulierten gar ausgezeichnete Landkarten, auf denen Eingänge und Ausgänge verzeichnet waren. Inzwischen, so klagen die "Cataphiles", könne man die 300 Kilometer an Gewölben und Tunneln nur noch an 30 Stellen erreichen, und ohne erfahrenen Führer, so raten Insider, solle man sich gar nicht erst auf den Weg machen.

Erfahrene Führer bieten die Katakomben von Denfert-Rochereau in großer Zahl. In allen Sprachen wird über den Knochentransport des 18. Jahrhunderts berichtet, an vielen dunklen Ecken des verwinkelten Parcours entlang der Knochenmauern stehen Wärter. Auch sie geben Auskunft über Totenköpfe und Knochen, noch mehr aber bewachen sie die Gebeine vor Dieben - an zahlreichen Stellen weisen die Mauern Lücken auf, Lücken die Trophäensammler geschlagen haben. Die Wärter beobachten zudem ständig die zerklüftete Decke der Katakomben. Mancherorts sickert Wasser herein, wo Wasser sickert, bilden sich kleine Lücken im Gestein, wo sich Lücken bilden, könnte ein Einsturz drohen, ein Einsturz könnte katastrophale Folgen auch an der Oberfläche haben.

Einsturzgefahr mitten in der City

Im März 2001 zum Beispiel, Rue des Martyrs, 18. Arrondissement. Auf zehn Quadratmetern verschwindet das Kopfsteinpflaster und die Passanten blicken mit einem Mal in einen schwarzen Schlund. Dabei ist das 18. Arrondissement weitaus weniger durchfurcht und durchgraben als der Süden der Stadt. Dort verschwindet im April 2001 ein Baum von der Rue Esquirol. Im Mai 2001 sackt der Boden in einem Schulhof des 14. Arrondissements ab, nahe Denfert-Rochereau, nahe den Katakomben, die Jean-Pierre Willesmes Männer so scharf kontrollieren. 30 Zwischenfälle dieser Art gibt es allein 2001, und der Nouvel Observateur berichtet, dass 1000 Kommunen rund um Paris mit dem Problem einer zunehmend morschen Unterwelt zu kämpfen haben.

Morsch und faszinierend zugleich. Ein normales Pariser Wohnhaus steht auf einem Gewirr aus Gewölben, das mindestens dreimal so weit in die Tiefe reicht wie das Haus in die Höhe. Keller, mehrere Etagen an Garagen, Abwasserleitung, Strom - das ergibt ein Haus. Zwei Linien der Métro untereinander, daneben Wasserzuleitung - das ergibt das zweite Haus. Die Linien der RER und die alten Kalk- oder Gipssteinbrüche - das ergibt das dritte Haus. Die neue RER-Linie E verläuft gar in einer Tiefe von mehr als 30 Metern, unterhalb einer wasserundurchlässigen Lehmschicht. Die Folge: Einstürze drohen, und bei jedem Neubau eines Fundaments oder einer Métrolinie gibt es kaum lösbare technische Probleme.

Es erstaunt nicht, dass die "Inspection des Carrières" immer wieder dafür plädiert hat, wenigstens diese Löcher mit gigantischen Betonspritzen zu schließen. Doch längst ist errechnet, dass die ungenutzten Gewölbe eine Fläche von 770 Hektar bedecken, ein Streckennetz, das doppelt so lang ist wie das der kompletten Métro, Millionen von Kubikmetern, die zu füllen selbst eine reiche Stadt wie Paris nicht die Mittel besitzt. Also begnügt man sich mit Stützpfeilern, baut künstliche Gewölbe unter glockenförmige Hohlräume, welche herabfallendes Gestein zurücklässt und spritzt allenfalls dort Beton in die Gänge, wo Hochhäuser auf dem Erdreich lasten, etwa unterhalb der Türme "Les Olympiades" im 13. Arrondissement.

Knochen-Mitnahme streng verboten

Die "Cataphiles" sind darüber natürlich verärgert. Sie beklagen das Verschwinden einer wahren Sub-Kultur, in der ab den späten 40er Jahren Musikrichtungen kreiert wurden, Künstler gewagte Happenings veranstalteten oder Satanisten ihre Schwarzen Messen. An einigen Stellen sind Wandmalereien und Unterwelt-Skulpturen entstanden, die an legalen Orten gewiss unter Denkmalschutz stünden. Im Höhlenkomplex "La Plage" etwa, in den man außerdem einige Kubikmeter Sand transportierte, um in finstrer Umgebung eine Ahnung von Südsee zu erzeugen. Besonders beeindruckend ist die mehrbeinige Metallskulptur "Catagolem", deren doppelter Kopf das Kalkgewölbe zu stützen scheint. Andere Kultorte sind der "Saal des Phantoms", die "Bar der Ratten", der "Swimming Pool" oder der "Deutsche Bunker" aus Zeiten der Besetzung.

Orte, von denen man in den Gräber-Katakomben von Denfert-Rochereau selbstverständlich nichts wissen will. Alles sei abgesichert, flüstert Jean-Pierre Willesme, bevor er mit einer Gruppe die 83 Stufen einer anderen Wendeltreppe zurück an die Oberfläche erklimmt, keine wilden Parties mehr, zumindest nichts, wovon er wüsste. Allein von Champignon-Kulturen könne er erzählen, die, gänzlich legal, in einigen weiträumigen Kellern in der südlichen Banlieue existierten. Früher, im 16. und 17. Jahrhundert, erntete man die Champignons zwischen den Knochen und Totenköpfen, fügt der Museumsdirektor hinzu, da habe man keine Berührungsängste gegenüber den Toten gehabt.

Was die Berührungsängste betrifft, gibt es offenbar auch im 21. Jahrhundert wenig Hemmungen. Am Ausgang durchwühlt eine Mitarbeiterin von Willesme gründlich die Handtasche einer Besucherin. "Keine Knochen?", fragt sie streng, und ruft dann, nach erfolgloser Suche: "Super!"

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