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Nationalpark Gran Paradiso Das schleichende Sterben der Steinböcke im Paradies

Der Nationalpark Gran Paradiso bewahrt die Wildnis der Alpen und eine uralte Kulturlandschaft. Aber ausgerechnet seinem Wappentier geht es nicht gut. Biologen stehen vor einem Rätsel.
Von Jeremy Berlin

Gerade mal eine Autostunde nördlich von Turin steigt die Straße hinauf in eine Landschaft wie aus einem Bergfilm. Lärchenwälder in stillen, von Gletschern und Flüssen geformten Tälern, dann saftige Bergwiesen, schließlich schneebedeckte Gipfel. Ständig hört man Bäche plätschern oder Flüsse rauschen, es duftet nach Kiefern. Über allem wacht das bis zu 4061 Meter hohe Bergmassiv, das dem Park seinen Namen gab. Mitten in Europa liegt Gran Paradiso, ein irdischer Garten Eden. Kein Wunder, dass die letzten beiden Päpste hier ihre Ferien verbrachten.

Doch die Landschaft ist auch von Menschenhand gestaltet. Hier stehen römische Ruinen und mittelalterliche Burgen ebenso wie Talsperren, man findet Bilder aus der Jungsteinzeit an den Felsen und Sonnenkollektoren auf den Dächern moderner Häuser. Seit dem Zweiten Weltkrieg haben viele Menschen der Region Arbeit in Städten gefunden, aber rund 8400 leben noch in den 13 Gemeinden des Parks. Sie teilen ihn mit mehr als 50 Säugetierarten, 100 Vogelarten und fast 1000 Pflanzen- und Blumenarten. Und jedes Jahr mit 1,8 Millionen Urlaubern.

Das königliche Reservat

Der Gran Paradiso ist heute ein hochalpines Zentrum für Wildschutz, Forschung und die Pflege alter Kultur. Und alles begann mit den Bergziegen. "Ohne sie gäbe es dieses Schutzgebiet nicht", sagt Pietro Passerin d'Entrèves. Der Zoologe, Professor an der Universität Turin, ist ein Chronist dieser Landschaft, in der seine Familie seit 1270 lebt.

An einem wolkenverhangenen Tag sitzt er in Cogne, der inoffiziellen Nationalpark-Hauptstadt, vor einem Teller Gnocchi und erzählt. Zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert wurden die Alpensteinböcke wegen ihres Fleisches, ihrer Hörner, ihres Bluts (das angeblich die Potenz steigern sollte) und ihrer verknöcherten Herzscheidewand gejagt, aus der Amulette geschnitzt wurden. Als es nur noch wenige Dutzend der Tiere gab, ließ Viktor Emanuel II. ein königliches Reservat einrichten, um die Art zu erhalten - nicht nur aus Tierliebe.

Jagd auf Steinböcke

Der Herrscher aus dem Haus Savoyen war leidenschaftlicher Jäger und nahm besonders gern die graziösen Steinböcke aufs Korn. Er ließ Wege anlegen, Jagdhütten bauen und Dörfer in das Gebiet eingliedern. Jäger und Wilderer erhielten Anstellungen als Revierhüter, und die Einheimischen wurden dafür bezahlt, einmal im Jahr die Jagd des Königs auszurichten.

Als Viktor Emanuel III. 1900 den Thron bestieg, gab es im Gran Paradiso wieder rund 2000 Steinböcke. Anderthalb Jahrzehnte später, als Europa im Ersten Krieg versank, hatte der Herrscher keine Zeit mehr, auf die Jagd zu gehen. 1920 widmete er sein Revier dann sogar in ein richtiges Schutzgebiet um. Zwei Jahre später wurde es zum Nationalpark.

Heute ist der Ökotourismus zur wichtigsten Einnahmequelle geworden, 58 Wildhüter patrouillieren jetzt in den fünf Tälern des Parks. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, 14 Stunden am Tag im Sommer, setzen sie nun Wege instand und helfen Wanderern. Sie haben auch die Tierwelt im Blick. Mit GPS und Wärmebildkameras spüren sie mit den Biologen die Steinböcke und Gämsen auf und markieren sie. Im vergangenen September zählten sie nur noch 2772 Steinböcke. Das heilige Tier stirbt aus - es gibt Probleme im Paradies.

Es gibt weniger Nachwuchs

Die Dämmerung legt sich auf die Berge, als Achaz von Hardenberg sein Fernglas absetzt. Der deutsche Biologe, Mitglied des Nationalparkteams, steht am Rand des Levionaz-Tals und wartet auf Steinböcke, die er wiegen will. Den sonnigen, warmen Tag über sind sie in Gruppen von vier oder fünf Tieren elegant von Fels zu Fels gesprungen und haben hoch oben an den Hängen gefressen. Nun aber ignorieren sie die Lecksteine aus Salz, die von Hardenberg neben einer elektronischen Waage aufgestellt hat.

Vor 20 Jahren konnte man die Steinböcke nicht übersehen. Fast 5000 gab es damals im Gran Paradiso, mehr als je zuvor. Seither nimmt die Zahl ständig ab, und niemand weiß wieso. Es gibt einige Theorien. Von Hardenberg hat zwei: Eine besagt, dass die Weibchen heute in höherem Alter trächtig werden und schwächeren Nachwuchs mit schlechteren Überlebenschancen produzieren. Die andere hat mit dem Klimawandel zu tun: Früher stand hier das Gras am sattesten im Hochsommer - wenn der Steinbock-Nachwuchs zur Welt kommt.

Heute gibt es weniger Schnee, das Gras wächst früher und dünnt früher aus. Die Mütter haben weniger zu fressen, die Neugeborenen bekommen weniger Milch: Viele leben darum nicht lange genug, um später selbst Junge zu zeugen. Von Hardenberg will Satellitendaten auswerten, um zu sehen, wie sich die Vegetation auf den Wiesen in den letzten 30 Jahren verändert hat. Vielleicht findet er dort eine Antwort.

Gekürzte Fassung aus "National Geographic Deutschland", Ausgabe Februar 2015, mehr über dieses Thema unter nationalgeographic.de/gran-paradiso

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