Die neue Eiszeit zwischen Ost und West trifft auch den Luftverkehr. Russland droht mit einer Sperrung des Luftraums für europäische Airlines. Müssen wir bald längere Umwege in Kauf nehmen?
Kein Passagier weiß vor einem Flug, wo genau seine Flugroute verläuft. Auch ein Blick auf die Weltkarte mit dem Streckennetz einer Fluggesellschaft, die im hinteren Teil jedes Bordmagazins abgedruckt ist, zeigt einen geografisch nur sehr ungenauen Verlauf. Selbst Piloten können sich den günstigsten Weg nicht aussuchen, denn sie haben nur begrenzten Handlungsspielraum. Im überwachten Luftraum weisen Flugverkehrskontrollstellen den Besatzungen die jeweilige Strecke zu.
Bei der Auswahl der Flugroute spielt nach dem mutmaßlichen Abschuss der Boeing 777 von Malaysia Airlines allerdings nicht mehr nur die aktuelle Wetterkonstellationen mit vorteilhaften Rückenwinden und der begrenzte Platz auf den Luftstraßen eine Rolle. Denn die Öffentlichkeit ist für das Thema Sicherheit nun besonders sensibilisiert.
"Bisher waren nur Anflüge auf bestimmte Flughäfen ein Sicherheitsthema", sagt Jörg Handwerg von der Pilotengewerkschaft Vereinigung Cockpit, "jetzt sind es auch Überflüge". Das Hinwegfliegen über umkämpfte Länder galt lange Zeit als unbedenklich, da es dort in der Regel keine Waffensysteme gab, die Passagiermaschinen auf Reiseflughöhe erreichen konnten. Doch jetzt sind offensichtlich auch Zivilmaschinen in 10.000 Metern Höhe über Konfliktgebieten bedroht. Daher machen Airlines seit dem Zwischenfall am 17. Juli um Krisenregionen einen großen Bogen.
Airlines betreiben "risk mapping"
Das war bis zur Katastrophe von MH17 nicht immer der Fall. Auf ihrem Weg nach Asien flogen zum Beispiel die Maschinen von Lufthansa, Thai Airways und Singapore Airlines regelmäßig über die Ostukraine, während die Jets von British Airways und Air France den Luftraum bereits mieden. Diese Entscheidung hängt nicht nur von Sicherheitsbedenken ab, sondern auch von individuellen Überflugrechten zwischen einer Airline und einem Land.
Bei großen Fluglinien gibt es zwar Abteilungen, die "risk mapping" betreiben und tagesaktuell entscheiden, welche Länder ihre Flugzeuge über- oder umfliegen dürfen. Doch das Drama in der Ostukraine hat gezeigt: Eine zentrale Stelle für Risikobewertung in der Zivilluftfahrt existiert nicht. Allerdings greifen Airlines auf Bewertungen zurück, die von der Internationalen Zivilluftfahrtorganisation (ICAO) über Flugrouten, die über Krisengebiete führen, vorgenommen werden.
Durch die Lage in der Ukraine, den Bürgerkrieg in Syrien und die andauernden Raketenangriffe aus dem Gazastreifen auf Israel und den internationalen Flughafen von Tel Aviv sprechen die Airlines nun offener über ihre Flugrouten. So vermeldet die Lufthansa, dass im Transitverkehr nach Asien der irakische Luftraum über dem von Isis-Terroristen kontrollierten Gebiet bis auf weiteres gemieden wird und die Flüge nach Erbil im Nordirak ausgesetzt wurden.
Nach Japan, Korea und China via Russland
Noch halten sich die Umwege wegen des Überflugverbots der Ostukraine allerdings in Grenzen. Doch durch die Androhung Moskaus, westlichen Airlines das Überfliegen russischen Territoriums zu verbieten, erhält das Thema Flugrouten neue Brisanz: Dann müssten alle Flüge westlicher Airlines von Europa nach Japan, Korea und China viel weiter südlich verlaufen.
"Pro Woche haben wir 180 Flüge über sibirischen Luftraum", sagt Peter Schneckenleitner von der Lufthansa. Durch die Ausweichrouten, die auch nicht mehr über die Ukraine, sondern über die Türkei, Iran, Afghanistan und Pakistan verlaufen würden, steigen Flugzeiten und Kerosinverbrauch enorm an. Auch könnten Direktflüge entfallen. Von dem Schreckensszenario wäre nicht nur die Einsatzplanung für Flotte und Crews betroffen, sondern auch Passagiere, die erst Stunden später ihre Ziele erreichten.
Unterschiedliche Risikoeinschätzung
Noch liegt der Lufthansa keine Information über eine Einschränkung der Überflugrechte von russischer Seite vor. "Das ist hochpolitisch", sagt der Sprecher der Lufthansa. "Wie alle Airlines halten wir uns mit Kommentaren zurück". Die Vereinigung Cockpit schätzt die mögliche Einstellung des Flugverkehrs über Russland für bestimmte Airlines als "Drohgebärde" ein.
Tatsache ist: Seit dem 11. August darf keine ukrainische Airline mehr über Russland fliegen. Ukraine International Airlines spricht von bis zu 20 Prozent Mehrkosten für die längeren Flugwege. Der Chef von Finnair, dessen Airline wichtigste Einnahmequelle die Langstreckenverbindungen zwischen Europa und dem Fernen Osten darstellt, hat die Sperrung des russischen Luftraums bereits durchgespielt und hofft, mit den neuen Airbussen vom Typ A350, die über eine vergrößerte Reichweite und nächstes Jahr in die Flotte aufgenommen werden, alle Ziele in Asien weiterhin nonstop zu erreichen - auch ohne über sibirisches Territorium zu fliegen.
Bei der Wahl der Flugrouten über Risikogebiete hat inzwischen ein Umdenken in der Zivilluftfahrt eingesetzt. Alle Informationen über umkämpfte Regionen, sei es in der Ukraine, im Irak, in Syrien oder Libyen werden inzwischen von staatlichen Stellen und Airlines für eine Risikoabschätzung des Überflugs verstärkt genutzt, um das Fliegen sicherer zu machen. Bei der Frage, wohin und worüber man fliegen kann, spielen nicht nur kriegerische Gefahrenzonen eine Rolle. Seit Neustem sind die westafrikanischen Länder unter Beobachtung, die von der Ebola-Epidemie betroffen sind. "Eine ganz andere Form von Krise", sagt Handwerg.