Alla Krjukowa, 72, will ihre Wohnung nicht verlassen, und es ist nicht klar, warum. Ihre beiden Zimmer liegen im neunten Stock eines Mehrfamilienhauses am Stadtrand von Charkiw. Sieht Alla aus dem Fenster, blickt sie auf ascheschwarze Ruinen. Raketen haben Krater in die Nachbarhäuser geschlagen. Wie Pappe hängen Bodenplatten aus einem der verkohlten Betongerippe. Die Bäume entlang der Straße sind eingeknickt, Scherben und Schutt bedecken den Asphalt vor dem Eingang. Lebte Alla im Hochhaus schräg gegenüber, wäre sie längst tot.
In der Ferne, hinter den Feldern, stehen die russischen Truppen. Seit mehr als einem Monat greifen sie die Stadt an. Aus Panzern und Raketenwerfen feuern sie auf Saltiwka, Allas Viertel, manchmal im Minutentakt. Die ukrainische Armee, die Charkiw seit Kriegsbeginn erfolgreich verteidigt, schießt zurück. Hier, am Stadtrand, trifft der Krieg die zweitgrößte Stadt der Ukraine am härtesten.

Allas Haus steht da wie eine gigantische Zielscheibe. Niemand hat es darin ausgehalten, nur Alla harrt aus, als würde die Lage besser, wenn man sie einfach ignorierte. Vielleicht war es irgendwann zu spät, um zu fliehen. Alla, die früher einmal Philosophie in einem Charkiwer Institut lehrte, blieb zurück, allein in der Hölle.
"Sie schießen ununterbrochen", sagt sie. "Seit Tagen geht das so." Alla trägt einen Schlafanzug, einen Pullover und Hausschuhe, in der Wohnung stinkt es nach Katzenpisse. Seit drei Tagen isst sie nur Kekse, die anderen Vorräte sind verbraucht. An Kochen ist sowieso nicht zu denken: Es gibt keinen Strom mehr, kein Wasser, kein Gas. Vergangene Nacht leuchtete der Himmel rot. Alla wollte gar nicht mehr wissen, wieso. Die Wände wackelten im Donner der Geschosse. Alla nahm ihren Kater Toscha in den Arm, legte sich aufs Bett und zog eine Decke über den Kopf. "So sterben wir jetzt", sagte sie zu ihm.
"Wir haben nicht viel Zeit", die Feuerpausen in Saltiwka sind kurz
Am Morgen wachte sie doch wieder auf. Draußen: Stille. Dann hämmerte Alexander Berdnikow an die Tür, Mitarbeiter der Organisation "Proliska". Im umkämpften Charkiw verteilen die Helfer Lebensmittel, sie evakuieren außerdem Menschen, die sich allein nicht in Sicherheit bringen können. Hunderte riefen in den ersten Wochen über die Hotline an, inzwischen ist es ruhiger geworden. Denn die meisten, die Charkiw verlassen wollten, sind längst weg.
Von Alla erfuhren die "Proliska"-Mitarbeiter zufällig durch ehemalige Nachbarn. Die alte Frau soll aus der Schusslinie des Krieges, weg vom sicheren Tod, und zwar schnell. Ein Sanatorium am Stadtrand nimmt Kriegsflüchtlinge auf. Sogar die Katze kann mit. "Wir haben nicht viel Zeit", sagt Alexander. Die Feuerpausen in Saltiwka sind kurz. Seine Prognose: eine Stunde, nicht mehr. Der Helfer ist nervös.
Aber Alla hat es nicht eilig. "Was soll ich alles mitnehmen?", fragt sie. Sie hängt an der Wohnung. Manchmal kommt es ihr vor, als höre sie im Flur noch die Schritte ihres verstorbenen Mannes. Im Schrank liegen seine Sachen. Die müssen jetzt bleiben, es ist ein Abschied für immer.
Alla will noch einen Zettel schreiben, für den Fall, dass jemand sie sucht. Alexander soll den Müll hinunterbringen. Sie sucht die Sommerschuhe, die Mütze und das Ladegerät für ihr Telefon. Der Deckel des Katzenkäfigs ist kaputt. Toscha läuft weg und versteckt sich unter dem Sofa. Alla kann auch den Hausschlüssel nicht finden. Alexander blickt aus dem Fenster. Schreckliche Stille liegt über Charkiws Kriegsfront. Zwei Stunden vergehen so.
Zum Schluss schminkt sich Alla vor dem Spiegel im Flur die Lippen. Alexander hakt sie unter, weil sie nicht mehr gut gehen kann. So laufen sie neun Stockwerke hinunter durch das Treppenhaus, der Wind weht durch zerbrochene Fensterscheiben. Unter den Füßen knacken Scherben. Auf der Wiese im Hinterhof, wo Alexanders Auto steht, klaffen Einschlaglöcher. Alexander muss Alla stützen, als sie sich ins Auto setzt. Toscha versteckt sich unter dem Sitz, und Alexander drückt endlich aufs Gas, er rast durch das leere Viertel, vorbei an verbrannten Autos und Panzersperren.
Manche sind wie gelähmt vor Angst, wenn sie ihre Wohnung verlassen sollen
Der Abschied aus den Wohnungen fällt vielen nicht leicht, die Mitarbeiter von "Proliska" kennen das schon. "Manche rufen uns", sagt die Psychologin Inna Pak, die auch für die Organisation arbeitet, "und dann können sie ihre Beine nicht bewegen. Sie sind wie gelähmt vor Angst." Viele Menschen in Charkiw macht der Krieg selbst nach Wochen noch fassungslos.
"Proliska" war acht Jahre lang im Donbas aktiv, kümmerte sich um die Menschen in den umkämpften Frontdörfern. Ihre Zentrale lag zufällig in Charkiw. Bis vor Kurzem hätte keiner der Mitarbeiter für möglich gehalten, dass auch ihre Heimatstadt zum Angriffsziel werden könnte.
Charkiw, die Stadt mit den prächtigen Altbauten und Dutzenden Hochschulen, liegt fast direkt an der Grenze. Bis ins russische Belgorod sind es etwa 80 Kilometer. Mehr als 90 Prozent der Menschen sprechen russisch, viele haben Angehörige im Nachbarland. Viele brachten für Wladimir Putin sogar einmal Sympathien auf, sie sahen russisches Fernsehen, wie früher, in der Sowjetunion. Selbst als die ersten Raketen einschlugen, dachten manche noch, es sei vielleicht eine Übung oder die ukrainische Armee beschieße die eigene Stadt. Jetzt dürfte es mit der Liebe zum Nachbarland für Jahrzehnte vorbei sein.
"Verpisst euch", antwortete der Bürgermeister den Angreifern
Brutal und blind beschießen russische Truppen täglich die Millionenmetropole. Nach Angaben des Bürgermeisters Igor Terechow trafen Geschosse bislang mehr als 1500 Gebäude, sie beschädigten 15 Krankenhäuser und Polikliniken sowie 69 Schulen. Ganze Viertel liegen in Trümmern.
Seit Kriegsbeginn gebe es in der ganzen Stadt keinen sicheren Ort, klagte Terechow: An manchen Tagen zählen Beobachter bis zu 70 Beschüsse. Am Sonntag schlugen Raketen in ein Wohnviertel im Zentrum ein, dabei starben sieben Menschen, 34 wurden verletzt, unter ihnen angeblich drei Kinder auf einem Spielplatz.
Diese Rücksichtslosigkeit gehört offenbar zur Taktik: Dem Bürgermeister schlugen die Angreifer vor, die Stadt den russischen Truppen zu überlassen, um eine "humanitäre Katastrophe" zu vermeiden. Die Toten zählt längst keiner mehr. Angeblich werden in der Stadt die Särge knapp. "Verpisst euch", antwortete der Bürgermeister auf das schriftliche Angebot.
Mehr als die Hälfte der Bewohner flohen seit Kriegsbeginn. Wer bleibt, sucht oft im Untergrund Schutz. Tausende schlafen seit Wochen in Bunkern und Kellern. Manche hausen zwischen Fitnessgeräten in der Sportschule, andere unter Klassenräumen oder Fabriken.
Leben im Untergrund: "Alle husten hier"
Alle 30 Metrostationen sind bewohnt. In der Station "Prospekt Gagarina", benannt nach dem sowjetischen Kosmonauten Jurij Gagarin, hat Schuldirektor Jewgenij Gonskij ein Zelt aufgeschlagen und einen Tisch aufgestellt. Sein Leben erinnere ihn ein bisschen an Camping, nur ohne Natur. Jeden Morgen läuft er mit anderen durch den Tunnel zur Nachbarstation "Sportiwna", denn dort teilen die Behörden Lebensmittel für alle Bewohner der U-Bahn aus.
In der "Sportiwna" hat sich der Physikstudent Denis Protektor in einem Waggon eingerichtet, er verfasst unter der Erde das letzte Kapitel seiner Doktorarbeit über Wärmeprozesse in festen Körpern. Ist es zu laut, setzt er Kopfhörer auf. Bis vor Kurzem schlief auch seine Oma im U-Bahn-Wagen. Doch die wurde mit einer Lungenentzündung ins Krankenhaus eingeliefert: Covid. "Alle husten hier", sagt Denis. Im Krieg macht das Virus niemandem große Angst.
Wie die meisten der Metrobewohner geht auch Denis manchmal in seine Wohnung. Viele bleiben in der Nähe ihrer Häuser, als könnten sie auf diese Weise ihr Eigentum schützen. Sie wollen in der Stadt bleiben, bis zum Schluss. Von fern betrachtet wirke das in manchen Fällen vielleicht merkwürdig und irrational, glaubt die Psychologin Inna Pak von "Proliska". "Aber auch das ist ein Ausdruck des Widerstands", sagt sie, "eine Form des Protests gegen den Krieg."
Die freiwilligen Helfer nutzen jede Feuerpause
Inna arbeitet eigentlich als Dozentin für Psychologie an einer Charkiwer Universität. Als der Krieg begann, blieb sie mit ihrer Familie in der Stadt. Jeden Morgen ist sie jetzt mit ihrem Mann Pawel Artjomow für "Proliska" unterwegs, sie verteilen mit anderen Freiwilligen Hilfsladungen, die aus dem Westen eintreffen: Decken, Trinkwasser, Medikamente, Obst, Nudeln oder Babynahrung. Unterwegs kümmert sich Inna, so gut es geht, um Menschen in Not. Viele sind verzweifelt, sie haben Angst oder trauern. Inna will sie stark machen, und sei es nur für einen Moment.

Wegen der Schießereien sind Inna und Pawel immer in Eile. Manchmal rasen sie durch die Stadt. Sie beginnen ihre Tour fast immer am Stadtrand, denn frühmorgens herrscht nach den Kämpfen der Nacht meist Feuerpause. Vielleicht frühstücken die Soldaten dann, überlegt Inna. Das hört sich fast nach normalem Leben an. Beide kennen das Viertel, denn hier lebten sie selbst, bevor Geschosse ihre Wohnung in Saltiwka zerstörten.
Einer der Bunker im Viertel liegt unter einer Schule, er ist schon von Weitem zu sehen. Zwischen zerschossenen Häusern hat sich vor dem Tor eine kleine Gruppe aufgeregter Menschen versammelt. Am Abend zuvor starb unter der Erde ein Mann an einem Herzinfarkt, seine Frau steht vor dem Bunker und weint. Erst am frühen Morgen schaffte es ein Krankenwagen, den Toten abzuholen.
Auf dem Schulhof beheizen Männer einen Grill mit zerhackten Stühlen aus den Klassenzimmern. "Seit zwei Tagen haben wir keinen Strom mehr", sagt Larissa Kusnezowa, die vor dem Krieg Verkäuferin war. "Jetzt müssen wir draußen kochen." Sie können nicht einmal mehr die Handys aufladen, um Nachrichten zu lesen. Hören sie in der Nähe Schüsse, rennen sie in ihr Versteck.
"Wir halten aus"
Larissa führt in den Bunker, es geht ein paar Stufen hinab. Drinnen ist es selbst am Tag dunkel. Ein paar Klappbetten stehen auf nackter Erde, daneben liegen im Staub Konserven und Wasserflaschen, Brot in Plastiktüten, Kekse. Unter der Decke hängen Rohre in silbernem Isolierpapier. Es ist eiskalt. "Der Mensch gewöhnt sich an alles", behauptet Larissa. "Ich habe so viel Schichten an wie ein Kohlkopf!"
Eine alte Frau in einer grauen Teddyjacke bricht in Tränen aus. "Sehen Sie mich an", ruft sie und streckt die Arme aus. "Das ist alles, was ich noch habe!" Ihre Wohnung brannte aus. Mehr als 30 Menschen hausen in diesem Loch, aber sicher fühlen sie sich auch hier nicht. Selbst unter der Erde spüren sie die Einschläge. "Es ist aber nicht so schlimm wie zu Hause", sagt Larissa, die manchmal nachsieht, ob ihr Wohnblock noch steht.
Es ist immer noch ruhig, also fahren Inna und Pawel bei einem alten Ehepaar vorbei, das in der Nähe lebt. Sie haben Brot, Konserven und Tabletten mitgebracht. Alle wollen Baldrianpillen, in der Apotheke der Freiwilligeninitiative steht eine große Kiste mit dem Beruhigungsmittel. Die Frau ist krank und liegt im Bett, sie kann nicht einmal in den Keller, wenn geschossen wird. Der Mann empfängt Inna und Pawel vor dem Haus. "Sollen wir Sie nicht wegbringen von hier?", fragt Inna. Der Mann kämpft mit den Tränen. Er verspricht, darüber nachzudenken, und entscheidet sich nach ein paar Tagen, doch zu bleiben. "Wir halten aus", sagt er.
Auf dem Weg zurück ins Zentrum erwacht die Stadt. In den ersten Wochen des Krieges schien Charkiw vor Entsetzen erstarrt. Menschenmassen drängelten sich in den Bahnhof, zu den Zügen in Richtung Westen. Jetzt sind die Straßen nicht mehr leer gefegt. Supermärkte haben geöffnet, es gibt sogar frisches Obst, nur Alkohol ist noch verboten. Seit ein paar Tagen spucken die Geldautomaten wieder Bargeld aus.
An den Postschaltern bilden sich lange Schlangen. Dort lässt die Stadt Hilfspakete verteilen. Tausende haben ihre Arbeit verloren, sie brauchen Unterstützung. Am Bahnhof hat ein Kaffeestand geöffnet. Mitarbeiter der Stadtverwaltung säubern mit Kehrmaschinen die Bordsteine, vielleicht, damit irgendetwas an das alte Leben erinnert.
Fliehen wäre wie Verrat
Der Krieg hat überall Spuren hinterlassen. Viele Fabriken sind zerbombt. Sogar Teile der Gebietsverwaltung gingen in Flammen auf. Beschädigt sind Universitätsgebäude und eine der ältesten Bibliotheken des Landes. Der Weg in das Viertel Schukowskowo führt durch einen Park, am Eingang liegen Buden und ein Fahrradverleih in Trümmern.
Der Eingang in den Atombunker liegt im Hinterhaus, verborgen unter einem Institut. Inna und Pawel parken direkt davor. Der Bunker entstand noch zur Sowjetzeit, in den 60er-Jahren. Die Behörden fürchteten damals einen Krieg mit der Nato. "Es hätte wohl kaum jemand für möglich gehalten, dass wir uns hier vor russischen Raketen verstecken", sagt Katja Matskewitsch, eine junge Konditormeisterin, die seit sechs Wochen im Bunker lebt. Am Eingang schützt eine dicke Stahltür vor den Bomben.
Katja trägt Mantel und Mütze, denn auch im Atombunker ist es kalt. "Am Anfang sind wir alle krank geworden", sagt sie. 120 Menschen teilen sich den Raum, 15 davon sind Kinder, das jüngste erst ein halbes Jahr alt. Damit sie es gemütlicher haben, schleppten Frauen von zu Hause einen Teppich für das Spielzimmer herbei. Gegen die Kälte tragen die Kleinen dicke Anoraks. Nach draußen dürfen sie nicht.
Katja hat nicht darüber nachgedacht, ob sie ausreisen soll. Wie Verrat wäre ihr das vorgekommen. Im Bunker organisiert sie die Verteilung der Lebensmittel, die freiwillige Helfer bringen. Sascha, ein Koch, rührt in einem großen Topf Erbsensuppe an. Im Atombunker gibt es immerhin Strom. Die Geschosse sind hier unten nicht zu hören, so dick sind die Mauern.
"Wir haben auch ein Problem", sagt Katja. Im Bunker gibt es nur wenige Toiletten. Die sind den Kindern vorbehalten. Die Erwachsenen müssen jedes Mal nach draußen, um aufs Klo zu gehen. Ungefährlich ist das nicht. Einmal landete ein Geschoss auf den Stufen am Eingang, Minenräumer mussten anrücken. "Vor zwei Tagen zersplitterten die Fenster des Instituts durch eine Druckwelle", erzählt Katja. Zwei Männer standen genau darunter, einer von ihnen verlor ein Bein.
Chefarzt Wadim: "Ich würde jetzt jederzeit eine Waffe nehmen, so sehr hasse ich"
Alle Krankenhäuser in Charkiw behandeln jetzt Kriegsverletzte. Wadim ist Chefarzt, seinen Nachnamen möchte er lieber nicht nennen. Das Leben im Krankenhaus war schon nicht einfach, bevor die ersten Raketen in seiner Stadt explodierten. "Wir dachten ja, Covid sei ein Problem!", sagt er. Für die infizierten Patienten sägte er in einer Werkstatt damals eigenhändig eine neue Tür, damit sie nicht den Haupteingang benutzen mussten, er zeigt sie im Krankenhaus. "Uns hat die Pandemie hart getroffen", sagt er. "Viele Menschen sind gestorben." Im Nachhinein kommen ihm diese Sorgen dennoch fast klein vor.
Der Krieg erschüttert ihn, er erträgt ihn kaum. "Ich bin Chirurg, mein ganzes Leben lang bemühe ich mich darum, Menschen zu retten", sagt Wadim. "Ich würde jetzt jederzeit eine Waffe nehmen, so sehr hasse ich." Putin würde er am liebsten in Stücke reißen.
Seinen Verwandten in Russland, die an den Krieg bis heute nicht glauben wollen, hat er Bilder von seinem Handy geschickt. Es sind Fotos einer Kopfwunde. Ein kleiner Junge lief zusammen mit seinem Vater vor Raketen weg, er stürzte. Die Ukrainer verzweifeln an den Russen und ihrem Glauben an die Propaganda, und Wadim tut das auch. Er hat nicht das Gefühl, dass sich Russen und Ukrainer noch viel zu sagen hätten.
Wadim operierte auch Menschen mit Splitterverletzungen. Verletzte ukrainische Soldaten. Alle, die der Krieg in sein Krankenhaus trieb. Als Bomben fielen, ließ er die Patienten auf Tragen in den Keller wuchten. Er selbst blieb oben, weil er das Gefühl hatte, er müsse sein Haus bewachen. Ein anderes Mal zerschlug eine Druckwelle Dutzende Fenster, er ließ sie mit Spanplatten abdecken. Wadim lebt im Krankenhaus, er geht nicht mehr nach Hause, und manchmal kocht er für die Krankenschwestern in der Küche Borschtsch.
"Wir werden Charkiw nicht hergeben"
Im Keller des Krankenhauses hausen Dutzende Nachbarn aus den umliegenden Hochhäusern. Inna und Pawel, die beiden "Proliska"-Helfer, versorgen auch sie mit Lebensmitteln. Dieser Bunker wurde ebenfalls einst für den Fall gebaut, dass ein Atomkrieg ausbricht. Der Chefarzt sieht die Not in der Stadt, aber er glaubt trotzdem an einen Sieg. "Wir werden Charkiw nicht hergeben", sagt er.
Gegen Abend haben Inna und Pawel einen letzten Termin. Im Viertel Nemyschljanskyj im Zentrum schlug vor zwei Wochen eine Rakete in einen Wohnblock ein. Im Haus gegenüber leben immer noch Menschen. Galina und Wiktor, ein älteres Paar, blicken aus ihren Fenstern direkt in die Ruine. Galina ist sich sicher, dass sie in dem lauten Krach den Schrei einer Frau gehört habe. Vier Menschen starben damals. Die Erde vibrierte. Galina weint. "Ich kann den Schrei immer noch hören", sagt sie.

Inna spricht von ihrer Wut. Von ihrer Angst. Der kaputten Wohnung. Und dann sagt sie, wie stolz sie alle sein können. "Wir haben diese Stadt nicht aufgegeben, und das tun wir auch in Zukunft nicht", sagt sie. "Wir sind alle Sieger. Wir überleben den Krieg. Wir wachen auf, und jeder Tag ist unser Geburtstag." Vielleicht zeige der Krieg ja, wie schön das Leben sein könne. Vielleicht werde das Leben, wenn er irgendwann vorbei ist, tatsächlich viel schöner. Weil der Krieg vieles so klein mache: Ärger, Ehrgeiz oder Streit. "Das Leben gewinnt immer!", sagt Inna zum Abschied.