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Privates Engagement Vom Schiedsrichter bis zur Feuerwehrfrau – ohne Menschen in Ehrenämtern wäre Deutschland aufgeschmissen

Güney Artak, Schiedsrichter: "Ich sorge dafür, dass sich die Spieler benehmen"
Güney Artak, Schiedsrichter: "Ich sorge dafür, dass sich die Spieler benehmen"
© Maximilian Mann / stern
Ehrenamt, das klingt so gestrig. Dabei arbeiten Millionen Freiwillige daran, das Land zusammenzuhalten – gerade jetzt. Wir stellen Ihnen acht dieser Menschen vor.

Wie sähe Deutschland ohne Ehrenamt aus? Man müsste es sich so vorstellen: Würde es brennen, käme in vielen kleineren Orten wohl niemand zum Löschen. Nach einem Hochwasser wären die Betroffenen noch mehr auf sich allein gestellt. Geflüchtete hätten es schwerer, sich im Land zurechtzufinden. Bedürftige müssten häufiger hungern, Obdachlose hätten weniger Zufluchtsorte, alte Menschen wären einsamer. Vielen Kindern würde niemals vorgelesen. Es gäbe kaum Trainerinnen, kaum Schiedsrichter, kein Vereinsleben. Nicht mal Wahlen könnten stattfinden, weil niemand da wäre, der Stimmzettel auszählt.

Die Stiftung stern unterstützt Vereine, in denen sich ehrenamtliche Helfer für Menschen in Not einsetzen – wie die von Lucas Bornschlegl und Peter Ostendorf. Auch Sie können helfen – mit einer Spende an Stiftung stern, IBAN DE90 2007 0000 0469 9500 01, Stichwort "Ehrenamt".  www.stiftungstern.de
Die Stiftung stern unterstützt Vereine, in denen sich ehrenamtliche Helfer für Menschen in Not einsetzen – wie die von Lucas Bornschlegl und Peter Ostendorf. Auch Sie können helfen – mit einer Spende an Stiftung stern, IBAN DE90 2007 0000 0469 9500 01, Stichwort "Ehrenamt".
www.stiftungstern.de

Deutschland ist ein Land des Ehrenamts. Fast 30 Millionen Deutsche, rund 40 Prozent der über 14-Jährigen, engagieren sich freiwillig. Sie setzen sich für andere ein, retten Leben, kümmern sich dort, wo der Staat wegschaut. Und sie machen das, ohne dafür ein Gehalt zu bekommen. Forscher der Uni Münster und der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW haben in einer 2020 veröffentlichten Studie berechnet, dass Ehrenamtliche allein in Nordrhein-Westfalen knapp 700 Millionen Arbeitsstunden im Jahr für das Gemeinwesen leisten. Beim Bruttodurchschnittslohn von 17,89 Euro pro Stunde in NRW ergibt das einen wirtschaftlichen Wert von 12,5 Milliarden Euro.

Wie wertvoll das bürgerschaftliche Engagement ist, wurde auch in der Pandemie deutlich. Noch bevor der Staat erste Maßnahmen umgesetzt hatte, schlossen sich Nachbarn zusammen, um für Alte und Kranke einzukaufen. Aber die Pandemie hat die Arbeit vieler Freiwilliger auch erschwert. Treffen waren lange kaum möglich, das Vereinsleben ruhte. Laut einer Umfrage des Stifterverbands aus dem Sommer konnten nur sechs Prozent aller Organisationen ihre Arbeit normal fortsetzen. Seit Corona haben viele Organisationen der Untersuchung zufolge zunehmend Mitglieder in wichtigen Ämtern verloren. Die Pandemie, warnen Experten, könnte das Ehrenamt in eine Krise stürzen. Und doch gab und gibt es sie, die Heldinnen und Helden, die zeigen, wie Engagement für andere Menschen im Corona-Jahr 2021 gelingen kann. Auf diesen Seiten stellen wir acht von ihnen vor.

"Ich hatte einen Grund, um weiterzumachen"

Patricia Krombach, 60, Obdachlosenhelferin

im Ehrenamt seit 1999, Krefeld, ca. 1800 Arbeitsstunden in diesem Jahr

Patricia Krombach
Patricia Krombach
© Maximilian Mann/STERN

Patricia Krombach setzte sich auf ihr Rad, als alle drinblieben. Und fuhr weiter zu denen, die nicht rein konnten. Krombach wusste, dass man auf sie wartete. Auf der Straße zählen Routinen. Gewissheiten sind da besonders wichtig, wo man sich auf wenig verlassen kann. Und dass Krombach kommen würde, war zu Beginn der Pandemie, als die meisten Anlaufstellen dichtmachten, für viele Obdachlose in Krefeld die letzte Gewissheit.

Seit mehr als 20 Jahren kurvt Patricia Krombach auf ihrem Rad durch Krefeld und bringt Menschen Wertschätzung entgegen, die vergessen haben, wie sich das anfühlt. Wenn jemand reden will, hört sie zu. Wenn jemand friert, besorgt sie Winterkleidung. Und wenn jemand Hunger hat, kramt sie Brötchen und Obst aus ihrem Fahrradhänger. Fast täglich steuert Krombach zwei Bäckereien an und manchmal einen Supermarkt. Was dort übrig ist, verteilt sie nachmittags in der Stadt. Viermal pro Woche reihten sich zuletzt auch abends Hunderte am Bahnhof auf, wenn Krombach mit Helfern warme Mahlzeiten austeilte. "Wenn wir das nicht gemacht hätten", sagt sie, "dann hätte es wahrscheinlich keiner gemacht."

Früher trug Patricia Krombach nachts Zeitungen aus. Dann wurde sie krank und verlor die Stelle. Krombach ist nun arbeitslos und doch arbeitet sie ständig. "Von denen, um die ich mich kümmere, unterscheidet mich nur, dass ich eine Wohnung habe", sagt sie. Als erst die Gesundheit weg war und dann der Job, habe es ihr geholfen, dass da draußen Menschen auf sie warteten. "Ich hatte einen Grund, um weiterzumachen." In der Pandemie war sie so viel unterwegs, dass sie sich nun eine Pause verschrieben hat. Krombach fährt nur noch an sechs statt sieben Tagen in der Woche durch Krefeld. Der Sonntag gehört ihr. So viel freie Zeit, sagt sie, sei sie gar nicht gewohnt.

"Die Menschen haben vor Dankbarkeit geweint"

Lucas Bornschlegl, 29, Katastrophenhelfer

im Ehrenamt seit 2016, Ahrweiler, ca. 2200 Arbeitsstunden in diesem Jahr

Lucas Bornschlegl
Lucas Bornschlegl
© Maximilian Mann/STERN

Als der Regen nicht mehr aufhörte und der Pegel der Ahr immer höher stieg, baute Lucas Bornschlegl etwa 1200 Kilometer vom steigenden Flussbett entfernt sein Zelt auf. Mit einem Freund wollte er in Südfrankreich Urlaub machen. Über die sozialen Medien erfuhr Bornschlegl, was sich in seiner Heimat zusammenbraute. Die beiden Männer packten ein und fuhren zurück. Zu Hause meldete Bornschlegl sich bei der freiwilligen Feuerwehr, Löschgruppe Karweiler. "Das Ausmaß der Zerstörung war unglaublich", sagt Bornschlegl. "Es gab kein Wasser, keinen Strom, kein Licht. Wir wussten nicht, wie viele Leichen es gibt und wo sie liegen." Als die Feuerwehr den Auftrag bekam, in anderen Orten zu helfen, blieb Bornschlegl in Ahrweiler. Er organisierte einen Generator und einen Wassertank, stellte eine Dusche auf.

Die Menschen hätten vor Dankbarkeit geweint, als sie sich den Schlamm von ihren Händen waschen konnten. Oder Strom für ihre Handys bekamen, damit sie ihre Kinder anrufen konnten, um ihnen zu sagen: "Ich lebe!" Nach und nach baute Bornschlegl gemeinsam mit Helfern und Anwohnern auf dem ehemaligen Campingplatz an der Ahr ein kleines Dorf auf. Eine kostenlose Versorgungsstelle, ein Treffpunkt. Anfangs gaben sie täglich bis zu 1200 Mahlzeiten aus, jetzt sind es noch bis zu 400. Es gibt einen Waschsalon und einen Werkzeugverleih, eine Ergotherapeutin, einen Friseur. Freitags läuft Kino für die Kinder.

Bornschlegl ist zum Koordinator des Camps geworden. Ende August haben sie in Ahrweiler einen Verein gegründet: die Ahrche. Der Verein trägt das Camp, sammelt Spenden für neue Projekte. Gerade hat der Verein in mehr als tausend Haushalten Wärmepumpen als Heizungsersatz anbringen lassen. Bornschlegl selbst wird den Winter in einem Wohnwagen auf dem Dorfplatz verbringen. Er sagt: "Unsere Aufgabe ist erst erfüllt, wenn dieses Camp nicht mehr benötigt wird." (Text: Catrin Boldebuck)

"Damit Pflegekräfte den Frust loswerden"

Ivonne Mohr, 46, Seelsorgerin

im Ehrenamt seit 2016, München, ca. 200 Arbeitsstunden in diesem Jahr

Ivonne Mohr
Ivonne Mohr
© Enno Kapitza

Wenn Pflegekräfte am Ende ihrer Kräfte sind, landen sie nicht selten bei ihr. Ivonne Mohr arbeitet seit 30 Jahren in der Pflege. Und in ihrer Freizeit schiebt sie einen anderen Dienst – am Hilfetelefon, das extra für die Helfer im Gesundheitswesen eingerichtet worden ist. Es sei nötig, meint Mohr. Seit die Arbeit immer mehr und das Personal immer weniger wird, glaubt sie, kommen sie im Gesundheitswesen kaum noch dazu, das Erlebte zu verarbeiten. Sie will das ändern.

Betrieben wird der Telefon-Service von dem Münchner Verein "Psychosoziale Unterstützung Akut". Pflegekräfte wie Mohr oder auch Ärzte hören sich an, was ihre Kolleginnen und Kollegen belastet. Manchmal bleibt es beim Telefonat, hin und wieder fahren Mohr und die anderen in Praxen oder Pflegeheime und sprechen mit der Belegschaft über das, was sonst unbesprochen bleibt. Seit Corona kommen mehr Anrufe. Anfangs hörte Mohr oft von der Angst, dem Virus schutzlos ausgeliefert zu sein. Später fuhr sie zu Heimen, in denen das Personal dabei zusehen musste, wie Bewohner am Virus starben, ohne sich von Angehörigen verabschieden zu können. Nun trifft sie auf Intensivmediziner, die nicht mehr können, aber sich weiter für Patienten aufreiben, die das Virus so viel weniger ernst nehmen als das Personal. Ivonne Mohr hört zu, bewertet nicht, zeigt Verständnis.

"Ich kann nicht beeinflussen, wie viele Ungeimpfte in den Kliniken liegen", sagt sie, "aber ich kann helfen, dass darüber gesprochen wird, dass die Beschäftigten im Gesundheitswesen ihren Frust mal loswerden." Manchmal, weiß Mohr, hilft schon das.

"Ich sorge dafür, dass sich die Spieler benehmen"

Güney Artak, 33, Schiedsrichter

im Ehrenamt seit 2016, Hannover, ca. 250 Arbeitsstunden in diesem Jahr

Güney Artak
Güney Artak
© Maximilian Mann / stern

Wer danach sucht, findet die Meldungen nach fast jedem Wochenende: Polizeieinsatz auf dem Fußballplatz, Tatort Kreisliga, Schiedsrichter bedroht, bespuckt, geschlagen. Die Zahl der Unparteiischen sinkt seit Jahren. Auch weil die Gewalt auf den Plätzen zunimmt, hören manche auf. Güney Artak hat deswegen angefangen.

"Ich habe immer wieder von abgebrochenen Spielen gehört, bis ich gedacht habe: Ich will helfen, dass sich das ändert", sagt Artak. Er war Türsteher, Personenschützer und Kickbox-Weltmeister, Kampfgewicht 118 Kilo, Beiname "Das Biest". Nun verbringt er seine Sonntage auf den Fußballplätzen im Raum Hannover. Artak pfeift Kreisligaspiele, die sonst kaum jemand pfeifen will. Er sorgt dafür, dass Problemspiele zwischen besonders unfairen Mannschaften kein Problem mehr sind. Dass sie nicht mit einem Polizeieinsatz enden.

"Eigentlich ist es traurig", sagt er, "da muss erst ein Typ wie ich kommen, damit sich die Spieler benehmen." Die Fußballer hören ihm auch deshalb zu, weil er Kickboxer war und auch so aussieht. Anderen Schiedsrichtern ist damit nicht geholfen, denn die sind keine Kickboxer, wollen aber trotzdem Spiele leiten, ohne bedroht zu werden. "Wenn ich pfeife, löst das nichts", sagt Artak. "Die Probleme müssen außerhalb des Platzes gelöst werden."

Deshalb geht Artaks Engagement weiter: Er hält Vorträge über Gewalt auf den Plätzen, gibt Workshops und Interviews. Dann fährt er zu Mannschaften, die immer wieder Regeln brechen. In Gesprächen und Übungen versucht Artak, sie zu überzeugen, dass es auch anders geht. Gewaltprävention im Vereinsheim.

Im Kleinen könne er den Alltag in der Kreisliga so ein Stück weit verändern, sagt Artak. Damit sich im Großen etwas tue, brauche es höhere Strafen für Vereine und Spieler, die Schiedsrichter anfeinden. Solange es die nicht gibt, will Artak nicht aufhören und sich weiterhin sonntags auf Kreisligaplätze stellen.

"Mein Ehrenamt ist wie eine Therapie für mich"

Kurt Peter, 64, Stiftungsgründer

im Ehrenamt seit 2016, Wangen im Allgäu, ca. 2400 Arbeitsstunden in diesem Jahr

Kurt Peter
Kurt Peter
© Enno Kapitza

Nachdem seine Tochter Valentina 2016 an Krebs gestorben war, wandelte Kurt Peter ihr Kinderzimmer in ein Büro um. Von dort aus leitet er seither eine Stiftung, die ihren Namen trägt. Peter will dafür sorgen, dass sterbenskranke Kinder ihre letzten Tage anders verbringen können als seine Tochter. Valentina war 13, als die Ärzte fragten: Wo willst du sterben, zu Hause oder in der Klinik? Eine wirkliche Wahl hatte sie nicht. Das Kinderpalliativteam der Uniklinik Ulm war unterfinanziert und erst dabei, eine mobile Versorgung aufzubauen. Also blieb Valentina im Krankenhaus. Kabel, Schläuche, kaltes Licht. Dazwischen Familie Peter. An Valentinas letztem Abend spielten sie Karten bis 23 Uhr.

"Es wäre schöner gewesen, wenn sie ihre letzten Tage zu Hause hätte verbringen können", sagt Kurt Peter. Er habe aber nie gehadert, sondern sich gefragt: Was ist jetzt mein Auftrag? Kurz nach Valentinas Tod gründete Peter die Stiftung Valentina, mit der er sich dafür einsetzt, dass mehr sterbenskranke Kinder so viel Zeit wie möglich zu Hause verbringen können. Die Stiftung sammelt Spenden und finanziert das mobile Kinderpalliativteam der Uniklinik Ulm, mit dem Geld werden die Jahresgehälter von vier Pflegekräften und einer Ärztin bezahlt. Peter hat Sponsoren für drei Einsatzfahrzeuge gefunden, für Diensthandys und medizinische Geräte. In sieben Landkreisen ist das Palliativteam inzwischen unterwegs, mehr als 250 sterbenskranke Kinder haben sie zu Hause versorgt.

Innerhalb von fünf Jahren ist aus der Stiftung ein Großprojekt geworden. Für Peter, der weiter um Unterstützer wirbt, ein unbezahlter Halbtagsjob. "Und irgendwie auch eine Therapie", sagt er. "Ich muss nichts verdrängen. Valentina ist die ganze Zeit präsent, und das in einem positiven Sinne."

"Dann retten wir diese Menschen eben selbst"

Theresa Breuer, 35, Aktivistin

im Ehrenamt seit 2021, Berlin, ca. 1800 Arbeitsstunden in diesem Jahr

Teresa Breuer
Teresa Breuer
© Maximilian Mann/STERN

Viele Jahre hat die Journalistin Theresa Breuer an einem Dokumentarfilm über afghanische Bergsteigerinnen gearbeitet. Als die Taliban diesen Sommer Kabul eroberten, drohte den Frauen aus dem Film Gefahr. Um sie in Sicherheit zu bringen, schloss Breuer sich mit Aktivisten und Vereinen zusammen. Sie gründeten die Initiative "Kabul Luftbrücke". "Eine irrwitzige Idee", sagt Breuer, "aber wir dachten, wenn es sonst keiner macht, dann retten wir jetzt eben diese Menschen selbst."

Ein Dutzend Unterstützer quartierte sich bei Breuer ein, aus ihrem Berliner Wohnzimmer wurde ein Lagezentrum. Die Gruppe legte Listen an, sammelte Spenden, charterte ein Flugzeug. Bald standen nicht mehr nur die Bergsteigerinnen auf der Liste, sondern Hunderte Namen, unter ihnen Übersetzer, Journalisten, Künstler. Breuer machte Druck beim Auswärtigen Amt, telefonierte mit US-Behörden, verhandelte mit dem Außenministerium von Katar. Schließlich flog sie nach Kabul. Doch der erste Rettungsversuch scheiterte. Breuer stand am Flughafen von Kabul. Das Flugzeug war da, die Passagiere nicht. Die Menschen, die gerettet werden sollten, gelangten nicht rechtzeitig zur Maschine. Breuer gab nicht auf, sie blieb vor Ort.

Als die Bundeswehr Afghanistan schon längst verlassen hatte, gelang es ihr, 189 Personen von ihrer Liste mithilfe der US-Luftwaffe zu evakuieren. Auch danach machte sie weiter. Bis heute hat Breuer mehr als 800 Menschen in Sicherheit gebracht, die eine Aufnahmezusage für Deutschland haben, aber ohne die "Kabul Luftbrücke" wohl noch immer in Afghanistan ausharren würden. "Die Bundesregierung lässt sich wahnsinnig viel Zeit", sagt Breuer, "wir evakuieren schneller." Einen Menschen zu retten kostet die Initiative bis zu 2000 US-Dollar. Noch immer sitzen Tausende in Afghanistan fest, trotz Aufnahmezusage. Und noch immer diskutiert Breuer mit Behörden, führt Listen, beantragt Pässe, chartert Maschinen. Seit Mitte August ordnet sie alles den Evakuierungen unter. Wie lange das noch so geht? "Solange es nötig ist", sagt Breuer, "bis die Bundesregierung ihre Verantwortung wahrnimmt."

"Bei mir gibt es keine arme Medizin für arme Leute"

Peter Ostendorf, 83, Mediziner

im Ehrenamt seit 2014, Hamburg, ca. 2000 Arbeitsstunden in diesem Jahr

Peter Ostendorf
Peter Ostendorf
© Max Arens

Peter Ostendorf war noch Chefarzt, als er seine Patienten vor dem Ruhestand warnte. Man lebt gesünder, sagte er, wenn man im Alter nicht anhält, sondern sich einer Sache verschreibt, die einen antreibt. Ostendorf hat seinen Rat selbst befolgt, nachdem er in Rente ging. 2014 eröffnete er eine Praxis in Hamburg, in der er Menschen behandelt, die nicht krankenversichert sind. Damals noch in drei Zimmern. Mittlerweile belegt seine "Praxis ohne Grenzen" zwei Etagen eines ehemaligen Jobcenters. Dort betreibt Ostendorf eine kostenlose Poliklinik für unversicherte Menschen. 55 Mediziner im Ruhestand hat er dafür um sich geschart, dazu 20 Krankenschwestern, Dolmetscher, Sozialarbeiter. Alle arbeiten ehrenamtlich, um diejenigen zu behandeln, die sonst nicht versorgt werden. In Ostendorfs Praxis kommen im Jahr rund 6000 unversicherte Patienten, Erwachsene und Kinder, Migranten ohne Papiere, abgelehnte Asylbewerber, aber auch deutsche Selbstständige, die ihre Privatversicherung gekündigt haben, als sie pleitegingen.

"Bei mir gibt es keine arme Medizin für arme Leute", sagt Ostendorf. "Alles muss den Standard haben, den der Kassenpatient bekommt." Ostendorf lässt auch aufwendige Operationen durchführen. Die Patienten kostet das nichts, die Praxis finanziert sich über Spenden. Im Jahr braucht Ostendorf eine Viertelmillion Euro, um Miete, Medikamente und Eingriffe zu bezahlen.

Mittwochs ist Sprechstunde, dann behandelt Ostendorf selbst. In der Praxis könne er so arbeiten, wie er sich das immer gewünscht habe, genug Zeit, nicht der Druck, an den Patienten zu verdienen. Trotzdem hofft Ostendorf, dass er bald zumindest keine Kinder mehr behandeln muss. Damit nicht genug, seit Kurzem ist Ostendorf auch Aktivist. Er setzt sich dafür ein, dass jedes Kind in Deutschland krankenversichert wird, gibt Gutachten und Studien zur Zahl unversicherter Kinder in Auftrag, lobbyiert bei den Parteien in Berlin.

Man darf nicht stehen bleiben, sagt der Chefarzt im Ruhestand.

"Ich habe in der Flut einfach funktioniert"

Anna Nolden, 16, Feuerwehrfrau

im Ehrenamt seit 2016, Kirchsahr, ca. 480 Arbeitsstunden in diesem Jahr

Anna Nolden
Anna Nolden
© Maximilian Mann/STERN

Bei ihrem ersten Einsatz als Feuerwehrfrau drohte Anna Nolden gleich Lebensgefahr. Als die Flut Kirchsahr erreichte, befüllte sie Säcke mit Sand. Doch der Bach im Ort trat so schnell über, dass es für Sandsäcke bald zu spät war. Nolden sah zu, wie die Wassermassen Autos die Straße hinunterspülten. Ihr Vater, der die freiwillige Feuerwehr in Kirchsahr leitet, brach den Einsatz ab. Auf dem Rückweg kamen sie an umspülten Häusern vorbei, in denen noch Menschen ausharrten. Mit einem Traktor fuhren Nolden und ihr Vater so nah heran, bis das Wasser in der Kabine bis zu den Pedalen stand. Sie zogen eine Leiter aus, Nolden band ihren Vater an einer Leine fest, er kletterte hinauf, sie sicherte ihn. Gemeinsam retteten sie fünf Menschen.

"Ich habe in der Flut einfach funktioniert", sagt Nolden. "Sie ist mit der Sache gewachsen", sagt ihr Vater. Im April hatte Nolden bei ihrer Grundausbildung noch gelernt, wie man Innenräume trockenlegt. Drei Monate später zog die Schülerin mit den neuen Kollegen der Feuerwehr durch das Dorf, pumpte Keller aus, schleppte Schlamm. Später versorgte sie die Bewohner im Ort mit Medikamenten und Lebensmitteln. Ihr erster Einsatz habe sie nicht abgeschreckt, sagt Nolden, sie will weitermachen: "Ich werde hier gebraucht."

Erschienen in stern 49/2021

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