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Ukrainische Geflüchtete Sie floh aus Kiew. Nun unterrichtet die Lehrerin in Schleswig-Holstein ukrainische Kinder: "Wir helfen uns gegenseitig"

Iryna Mikulska in ihrem Klassenraum
Iryna Mikulska, 38, unterrichtet seit drei Wochen an der Gemeinschaftsschule Harksheide als Klassen- und Englischlehrerin geflohene Schüler aus der Ukraine
© Max Arens
17 Jahre unterrichtete Iryna Mikulska in der ukrainischen Hauptstadt. Dann kam der Krieg. Heute hilft sie ukrainischen Schulkindern in Deutschland anzukommen. Jeder Tag ohne Fragen zum Krieg ist ein guter Tag.

Frau Mikulska, reden Sie mit Ihrer Klasse über den Krieg?
Neulich haben wir dazu eine Viertelstunde eingeschoben, weil ein paar Kinder sich mitteilen wollten. Aber wir vermeiden das ansonsten. Bitte nicht falsch verstehen: Das ist kein Verdrängen, es gibt auch kein Sprechverbot. Wenn ich sehe, dass ein Kind verkrampft oder irgendwas mit sich austrägt, gehe ich zu ihm. Nur glaube ich, es tut uns gut, auch mal an was anderes als den Krieg zu denken. Die Kinder wollen lernen, spielen. Die freuen sich, endlich mal in den Park zu gehen oder eine Exkursion nach Hamburg zu machen, vielleicht zum Hafen. Der Krieg wartet sowieso auf uns alle, wenn die Schulglocke läutet.

Weil Sie dann am Handy kleben, Kontakt in die Heimat halten?
Ich bin vor knapp drei Wochen nach Deutschland gekommen und bei Freunden untergekommen. Und was habe ich gemacht? Den ganzen Tag Nachrichten gelesen, alles zum Krieg aufgesaugt, alles über Kiew geguckt. Wir haben über den Krieg geredet, über den Krieg nachgedacht, und nachts haben wir vom Krieg geträumt. So was ist auf Dauer nicht gesund, glauben Sie mir. Ich war immer niedergeschlagen, ich habe ständig geweint. Die Schule in Norderstedt gibt uns jetzt ein Stück Leben zurück. Wir haben etwas zu tun, wir haben wieder eine Aufgabe. Ich fühle mich hier gebraucht. Die Atmosphäre ist gelöster und fröhlicher, hier wird laut gelacht. Das ist enorm befreiend. Die ukrainischen Kinder dürfen jetzt auch einfach mal wieder Kinder sein.

Iryna Mikulska spricht mit einer Schülerin
Auf die Schulen in Schleswig-Holstein wurden 1098 Schulkinder aus der Ukraine verteilt. Geflüchtete Lehrkräfte wie Mikulska helfen ihnen beim Ankommen
© Max Arens

Was nehmen Sie denn inhaltlich durch, wenn nicht den Krieg?
Wir haben ausführlich über Ostern geredet. In der Ukraine wird Ostern in der Form ja nicht begangen. Ansonsten unterrichte ich hier Englisch und Ukrainisch, und ich assistiere bei meinen deutschen Kollegen. Ich helfe den ukrainischen Kindern dabei, sich zurechtzufinden in dieser neuen Umgebung und einem für sie völlig neuen Land. Oft bin ich auch so eine Art Übersetzerin. Die Jugendlichen aus der Ukraine sprechen ja noch kein Deutsch, ich vermittele zwischen allen Seiten. Wir lernen uns immer noch kennen.

Wie groß ist Ihre Klasse?
In meiner Klasse sind 13 Kinder, und alle sind sie aus der Ukraine geflohen. So wie ich. Sie kommen aus verschiedenen Regionen. Manche aus Charkiw, manche aus Kiew, manche aus dem Osten, manche aus dem Westen der Ukraine. Die Jüngsten sind zehn, die Ältesten 15 Jahre alt. Aber was sie alle jetzt eint, ist ihr Trauma. Ist ihre Erinnerung an die Flucht. Das Gefühl, ihre Heimat zurückgelassen zu haben.

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Fünf Jahre Altersunterschied in einer Klasse, das ist ungewöhnlich.
Es wird nicht einfach sein, einen Unterricht anzubieten, der allen gerecht wird. Manchmal brauche ich mehrere Stunden, um eine Stunde Englischunterricht vorzubereiten, weil ich die verschiedenen Lernstufen und Bedürfnisse berücksichtigen möchte. Aber die Größeren helfen den Kleineren, sie kümmern sich ganz rührend umeinander, das sehe ich jeden Tag. Es funktioniert. Irgendwie funktioniert es. Eigentlich unglaublich, oder?

Ja.
Am ersten Tag war das nicht klar.

Wie war der erste Tag, als Sie die Kinder kennengelernt haben?
Viel Unruhe, Unsicherheit, Furcht auch. Ich habe in ängstliche Gesichter geblickt. Nicht nur von den Kindern, auch von den Eltern. Wir alle wussten nicht, wie das jetzt wird. Aber manchmal entsteht über kleine Gesten ein Gefühl von Normalität, zumindest ein bisschen. Wenn ich Stundenpläne austeile oder erkläre, was die Lernziele sind – daran kann man sich festhalten. Ich habe den Eltern immer wieder gesagt: Es gibt keinen Grund zur Sorge. Schauen Sie sich um, habe ich gesagt, der Klassenraum ist schön und sauber, die Lehrerschaft ist nett und engagiert, die Ausstattung ist großartig. Es wird alles gut werden, habe ich gesagt, bestimmt wird es das.

"Wir sind auf dem Weg, eine normale Klasse zu werden"

Glauben Sie daran, oder waren das Beschwichtigungsformeln?
Nur weil man sagt, etwas werde gut, wird es natürlich nicht automatisch gut. Die Kinder waren zuerst schon ziemlich eingeschüchtert. Sie haben anfangs nicht geantwortet, wenn ich eine Frage gestellt habe. Aber es ist doch wirklich erstaunlich, wie anpassungsfähig Kinder dann auch wieder sind. Fünf Tage später waren sie schon viel aktiver, haben sich beteiligt, Fragen gestellt und untereinander Gruppen gebildet. Auch mit den deutschen Schülern suchen sie jetzt langsam den Kontakt. Ich glaube, wir sind auf dem Weg, eine normale Klasse zu werden. Am ersten Tag war ich für die Kinder auch nur eine fremde Frau. Mittlerweile vertrauen sie mir mehr.

Wo haben Sie vorher unterrichtet? Wie sah Ihr Leben aus?
Ich bin aus Kiew. Meine Familie ist immer noch dort, viele Verwandte, Freunde auch. Ich hatte eine schöne Wohnung, ich war sehr zufrieden mit meinem Leben, ich war glücklich. 17 Jahre habe ich in der Ukraine unterrichtet, zuletzt eine 9. Klasse. Aber der 24. Februar, der Tag des Angriffs, hat alles verändert. Dieser Tag hat sich uns allen eingebrannt. Es ist unmöglich, ihn zu vergessen. Meine Schülerinnen und Schüler in Kiew konnten nicht mal ihr Schuljahr beenden, das tut mir so leid für sie. Die meisten haben Kiew verlassen und sind in alle Winde verstreut. Aber sie leben. Sie leben.

Denken Sie oft an Rückkehr?
Wir wissen nicht, was sein wird. Wann der Krieg zu Ende geht. Als ich in Kiew gelebt habe, hatte ich keinerlei Pläne, nach Deutschland zu kommen. Jetzt bin ich hier. Aber, klar, wenn es sicher ist, möchte ich zurück, auch an meine Schule in Kiew. Ich will sie aufbauen helfen, sie wurde nämlich getroffen, die Fenster sind geborsten. Das habe ich aus einer Chatgruppe erfahren, in der ich mit meinen ehemaligen Kollegen schreibe. Ich vermisse sie. Sie waren wie eine zweite Familie für mich. Sie freuen sich, dass ich es rausgeschafft habe. Fast alle von ihnen sind in der Ukraine geblieben.

Was erzählen Sie Ihren alten Lehrerfreunden vom Leben in einem Ort namens Norderstedt?
Als ich erzählt habe, dass ich Deutsch lerne, hat eine Kollegin gefragt: Iryna, warum lernst du denn Deutsch, wenn du in die Ukraine zurückkehren willst? Da habe ich ihr gesagt, dass ich das als Ausdruck des Respekts empfinde. Ich möchte die Sprache und die Kultur kennen- und schätzen lernen, auch aus Dankbarkeit. Die Deutschen helfen der Ukraine gerade sehr, finde ich, in vielerlei Hinsicht. Damit hatte ich gar nicht gerechnet.

Sind Ihnen, nach den ersten Tagen, schon Unterschiede im Unterricht aufgefallen zwischen den Ländern, in der Art, wie Schule funktioniert? Was ist typisch deutsch?
Hier in Deutschland ist es üblich, dass man als Lehrerin durch die Reihen geht und mit allen kommuniziert, auch Einzelgespräche sucht. In der Ukraine gab es das so nicht. Da ist es viel mehr Frontalunterricht, wir unterrichten etwas distanzierter. Aber mir gefällt die deutsche Zugewandtheit. Dazu wird auch mehr variiert, was die Unterrichtsform angeht. Man arbeitet mit Projektor, mit Aufgabenblättern, Präsentationen, Whiteboards, nicht nur an der Tafel. Das stand mir vorher nicht zur Verfügung. Wenn ich in die Ukraine zurückkehre, werde ich ein paar dieser Formen mitnehmen, glaube ich.

Hausaufgaben müssen aber leider sein, dort wie hier?
Nein, hier noch nicht, nicht für meine Klasse. Vielleicht nach den Osterferien. Aber gerade haben die Kinder noch genug mit allem zu tun. Sie haben eine lange Flucht hinter sich, sie saßen in Zügen und Autos und an Bahnhöfen, alles ist auf sie eingeprasselt. Was sie jetzt brauchen, ist Ruhe. Ich brauche Ruhe. Hausaufgaben sind nicht wichtig.

Frau Mikulska, woher nehmen Sie die Kraft, schon wieder vor einer Klasse zu stehen, vor traumatisierten Kindern, in einem fremden Land, während der Krieg tobt?
Die Kinder helfen mir, und ich helfe den Kindern. Und so versuchen wir, zusammen zu überleben.

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