Olga sollen wir sie nennen. Ihren Nachnamen will die Frau mit der grünen Tasche nicht veröffentlicht sehen, auch fotografiert werden möchte sie nicht. Sie will nicht als "Flüchtling" in den Medien erscheinen, so weit ist sie noch nicht. Schließlich war ihr Leben bis eben noch in Ordnung. Ein Mann, ein Kind, ein kleines Haus in der Nähe des Flughafens von Lwiw. Ein guter Job als Hotelfachangestellte. Vor eineinhalb Tagen hatte sie all das noch.
Jetzt sitzt die 36-Jährige in hellem Neonlicht an dem braunen Resopaltisch einer Notunterkunft für obdachlose Frauen. Die liegt in einem Vorort der Stadt Rzeszów in Südostpolen. 90 Kilometer sind es von hier zur Grenze der Ukraine, wo Olga ihr altes Leben zurückgelassen hat. Hinübergerettet hat sie nur das Kind. "Ich bin nur wegen Max weggegangen", sagt Olga, als müsse sie sich rechtfertigen. Max ist acht Jahre alt. Es ging so schnell. Ein paar Sachen zusammengepackt und los. Konzentriert schaut Olga auf die Wand gegenüber, während sie spricht. Die Tränen laufen einfach runter. Mit ihren Händen umklammert sie ihr Samsung-Handy.
Ihr Vater und ihr Ehemann brachten sie Richtung Polen, soweit es ging. Rund acht Kilometer vom Grenzübergang entfernt war das Ende der Warteschlange. Max und sie mussten zu Fuß weiter. Ihr Mann und ihr Vater drehten um. Sie wollen sich einer Einheit anschließen und kämpfen. Mehr weiß Olga nicht. "Es fühlt sich an, als würde ich in einem Film mitspielen. Aber es ist alles echt." Ihr Mann ist 35 Jahre alt. Er hatte noch nie eine Waffe in der Hand.
Seine Kollegen sind jetzt im Krieg
Im Zentrum von Rzeszów sitzt im schwarzen Anzug und weißen Hemd Stadtpräsident Konrad Fijolek an seinem Schreibtisch im prunkvollen historischen Rathaus und schaut auf den Computerbildschirm. Die Woiwodschaft Karpatenvorland, Rzeszów ist deren Hauptstadt, ist eng mit der Region um Lwiw auf der ukrainischen Seite verwoben. Mehr als 10.000 Menschen pendelten hier täglich über die Grenze, die in ihrem Leben kaum noch eine Rolle spielte – bis Putin es anders wollte.
Fijoleks Kollegen auf ukrainischer Seite sind jetzt im Krieg. Im Online-Meeting der Bürgermeister und Regionalvertreter, in dem es sonst um kulturelle oder wirtschaftliche Zusammenarbeit geht, fallen Sätze wie: "Unser Hauptziel ist es, den Feind zu stoppen." Und: "Mit den Bodentruppen kommen wir bisher klar. Aber wenn Luftangriffe starten, brauchen wir Hilfe. Wir können uns nicht verteidigen."
Müde dreht Fijolek sich um. "Das sind unsere Nachbarn," sagt er nur. Es liegt so viel in diesem Satz. Fassungslosigkeit, Ohnmacht, Angst. Auf dem Display seines Smartphones checkt er die Meldungen zur geopolitischen Weltlage, die sich nicht irgendwo abspielt, sondern hier vor seiner Haustür.
Die ukrainischen Kollegen auf Fijoleks Bildschirm erzählen von ihren Mitarbeitern, die jetzt Richtung Osten ziehen, um zu kämpfen. Ein Mann aus der Partnerstadt Iwano-Frankiwsk klagt, es fehle an militärischer Ausrüstung. Der Stadtpräsident von Lwiw befürchtet, dass die Stromversorgung zusammenbrechen könnte. Fijolek verspricht, gemeinsam mit anderen polnischen Städten eine Versorgungskette zu organisieren. Generatoren, Walkie-Talkies, Medikamente, Blutspenden. "Wir werden alles an nicht-militärischen Gütern liefern, was möglich ist."
Binnen Stunden ist die Grenzregion zwischen Polen und der Ukraine in den Krisenmodus gewechselt. Notunterkünfte müssen organisiert werden und die Versorgung der Flüchtenden. Allein in den ersten vier Tagen seit Beginn der russischen Invasion haben nach Schätzungen des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge eine halbe Million Ukrainer in den Nachbarländern Schutz gesucht, die große Mehrheit in den EU-Staaten Polen, Ungarn, Slowakei und Rumänien. In Brüssel rechnet man damit, dass es schon bald Millionen sein werden, die sich über die südlichen und westlichen Grenzen der Ukraine in Sicherheit bringen.
Ukraine: "Rings ums Haus hörten wir Explosionen"
Täglich wächst die Zahl der Fliehenden. Als Olga mit ihrem Sohn Max die Grenze nach Polen passierte, war die Schlange der Wartenden acht Kilometer lang. Zwei Tage später, in der Nacht zu Samstag, dem dritten Tag des Kriegs, kann auf der polnischen Seite niemand mehr sagen, wie weit sich hinterm Grenzposten Medyka auf ukrainischer Seite die Verzweifelten ins Hinterland stauen. 20 Kilometer? 50? Auf der polnischen Seite der Grenzzauns warten manche seit zehn Stunden auf ihre Angehörigen, andere noch länger. Es ist kalt, minus zwei Grad, dazu der Wind über den schwarzen Feldern. Mit Stirnlampen und Handybeleuchtung suchen sich die Menschen am Straßenrand ihren Weg in Richtung des grünen Gitterzauns, an dem die Fußgänger aus der Ukraine ankommen.
Dima Kirilowskij und seine Frau Lilia sind nachmittags in Warschau losgefahren, einfach so. Sie wollen Geflüchteten helfen, die eine Weiterfahrt brauchen, und man merkt ihnen an, dass sie auf das hier nicht vorbereitet sind. Die Menschen, die in kleinen Gruppen von der ukrainischen Seite aus der Dunkelheit langsam ins grelle Licht der Grenzscheinwerfer treten, haben nicht einmal mehr die Kraft, erleichtert zu sein. Frauen und Kinder, in Wolldecken gehüllt, apathisch.
Stumm nehmen sie Wasser entgegen, warmen Tee, einen Keks. Bis auf das unermüdliche Klackern der Rollkoffer ist es gespenstisch still. Lilia zieht sich die rosa Wollmützen noch tiefer ins Gesicht. Sie guckt unentwegt auf ihr Handy als würde sie versuchen, den Krieg wieder dorthin zu verbannen, wo sie ihn bisher gesehen hatte: Auf Facebook.
"Transport nach Warschau?!", ruft ihr Mann Dima den Ankommenden entgegen. "Ja. Bitte. Hier!" Eine junge Frau mit weißer Daunenjacke winkt. Snischana Schytnikowska, eine junge Rechtsanwältin, hat sich mit ihrer Schwester Karina und deren vierjähriger Tochter auf den Weg gemacht und eine Airbnb-Wohnung in der polnischen Hauptstadt angemietet. "Erstmal für zwei Wochen", sagt Schnischana. Und dann? "Mal sehen."

Die Frauen kommen aus Uman in der Zentralukraine, über 600 Kilometer von der polnischen Grenze entfernt. Krieg im gesamten Land, daran haben sie bis zuletzt nicht geglaubt. Dann krachte es, morgens um fünf. "Rings ums Haus hörten wir Explosionen", sagt sie. "Es war noch stockdunkel, aber der Himmel leuchtete rot. Bei uns in der Nähe sind drei Militärlager. Die wurden bombardiert und es wird so weitergehen."
Über 20 Stunden waren sie unterwegs, mit Zügen und Autos, Stück für Stück Richtung Westen. Dann zu Fuß. Dann warten. Um zehn Uhr morgens standen sie kurz vor der Grenze, jetzt ist es Mitternacht. "Als es dunkel wurde, war es schlimm", sagt Schnischana. "Manche Leute wurden aggressiv, die Kinder weinten, bis sie nicht mehr konnten. Alle sind am Ende ihrer Kräfte."
Während die einen fliehen, kehren die anderen zurück, um die Heimat zu verteidigen
Aber nicht alle wollen raus. Viele im Ausland lebende Ukrainer versuchen jetzt zurückzukehren. Oleg, 54, LKW-Fahrer aus Belgien, geht über die Grenze, weil seine Söhne nicht allein kämpfen sollen. Am Morgen nach Putins Angriff hat er die Umhängetasche gepackt, drei Pullover übereinander angezogen und ist nach Polen gefahren. "Ich wünsche mir, dass die Führer der Welt unserem Präsidenten Selenskyj zuhören", sagt er. Wohin er will? Erstmal rüber, dann nach Osten, mehr wisse er noch nicht. Mit langen Schritten verschwindet er Richtung Ukraine.
Ein paar hundert Kilometer weiter südlich, in Rumänien, versuchen Wladimir Jausimow und Jewgenij Gontscharuk ebenfalls zurückzukehren. Die beiden ukrainischen Mittvierziger hat der Krieg im Ausland erwischt. Wladimir ist Schweißer, er arbeitete auf einer Baustelle in Dubai. Jewgenij hat eine kleine Firma, die Apfelsaftkonzentrat produziert, er war gerade bei der Beerdigung eines Freundes im georgischen Tbilissi. Die beiden Männer sind sich vor ihrer verschlungenen Rückflug-Odyssee nie begegnet, das Schicksal hat sie zusammengeworfen als sie am Flughafen der rumänischen Küstenstadt Konstanza nach einer Mitfahrgelegenheit zur ukrainischen Grenze suchten.
Jetzt sitzen sie gemeinsam im Auto, Jewgenij vorne neben dem Fahrer, Wladimir auf der Rückbank, kräftige Männer mit knarzigen Stimmen, die wissen, dass ihre Reise nur in eine Richtung führt, weil sie beide im besten wehrfähigen Alter sind. "Einfacher Fahrschein", knurrt Wladimir. "Sobald wir drin sind, lassen sie uns nicht wieder raus." Aber rein müssen sie. Nicht nur, weil die Armee sie braucht. Ihre Familien sind in der Ukraine und trauen sich allein nicht raus. Jewgenijs Frau und seine Tochter warten in Winnyzja, einer 350.000-Einwohner-Stadt im mittleren Westen des Landes.
Komplizierter wird die Reise für den Schweißer Wladimir, dessen Frau und zwei Kinder ganz im Osten leben, in der Küstenstadt Mariupol, auf die Russlands Militär zu Wochenbeginn aus gleich zwei Richtungen vorrückte, im Westen von der Krim aus, im Osten durch die Separatistengebiete.
"Wie zur Hölle willst du da jetzt hinkommen?", fragt Jewgenij.
Wladimir zuckt ratlos mit den Schultern. "Irgendwie werde ich mich durchschlagen."
"Die Russen haben keine Ahnung, was hier auf sie zukommt"
Draußen zieht gelbes Steppengras vorbei, drinnen malmen nervöse Kieferknochen. Immer wieder schweigen Wladimir und Jewgenij minutenlang, während sie auf ihren Telefonen durch fetzenhafte Nachrichten wischen, verzweifelt bemüht, sich die Lage in ihren Heimatregionen zusammenzureimen.
Wladimir: "Wenn du zum ersten Mal Beschuss hörst, bist du wie gelähmt. Aber du gewöhnst dich schnell dran. Wir im Osten wissen das, wir hören das seit Jahren."
Jewgenij: "Gib uns zwei, drei Tage, dann wird die Angst nachlassen – und dann geht der Widerstand erst richtig los. Die Russen haben keine Ahnung, was hier auf sie zukommt."
Nach drei Stunden Fahrt taucht hinter den Fenstern die graubraune Donau auf, der mächtige Grenzfluss zwischen Rumänien und der Ukraine. Wladimir und Jewgenij tun an der Grenze ein neues Auto auf, dessen Fahrer unterwegs in die Ukraine ist. Ein paarmal noch werden sie in den nächsten Tagen in gehetzten Telefonaten ihre Lage durchgeben. Jewgenij schafft es bis nach Hause. Wladimir steckt bei Redaktionsschluss am westlichen Dnipro-Ufer fest, noch immer mehr als 200 Kilometer von Mariupol entfernt, wo seine Familie ihn jetzt stündlich aus dem Luftschutzbunker anruft.
Der Grenzübergang zwischen dem rumänischen Steppendorf Isaccea und dem ukrainischen Pendant Orliwka führt quer über die Donau. Alle zwei, drei Stunden löst sich auf der ukrainischen Seite eine stählerne Fährplattform vom Ufer, beladen mit wenigen Autos und vielen, vielen Fußgängern, die keine Viertelstunde später in Rumänien ihre Rollkoffer an Land ziehen.
Es blieben ihnen 15 Minuten. Dann wird der Sohn Wlad 18 Jahre alt
Die allermeisten sind aus der 200 Kilometer nordöstlich gelegenen Hafenstadt Odessa geflohen. Viele ausländische Studenten sind darunter, Ägypter, Marokkaner, Türken, die mit verstörten Blicken von nächtlichen Detonationen erzählen und sich nun irgendwie in ihre Heimatländer durchschlagen wollen. Ein junger Syrer schüttelt immer wieder ungläubig den Kopf. "Wo ich auch bin, überall ist Krieg."
Wie an den polnischen Grenzübergängen kommen auch hier mit der Fähre fast ausschließlich Frauen und Kinder aus der Ukraine, deren Männer und Väter das Land nicht verlassen können. Eine einzige komplette Familie steht am Vormittag des dritten Kriegstages in der Warteschlange vor den Zollcontainern. Artjom Sergejew hat das Glück, dass er als Vater dreier Kinder von der Einberufungsregel ausgenommen ist. Noch mehr Glück hat sein ältester Sohn Wlad, der heute seinen 18. Geburtstag feiert. Als die Sergejews am Nachmittag des Vortags Odessa hinter sich ließen, blieben ihnen wenige Stunden bis zu Wlads Volljährigkeit. Dem Fahrer, der sie zur Grenze brachte, platzte unterwegs ein Reifen. Auf der ratternden Felge fuhren sie weiter, bis sie den ukrainischen Zoll erreichten, wo man ihnen eine Viertelstunde vor Mitternacht den rettenden Ausreisestempel in die Pässe drückte. "15 Minuten später", sagten die Beamten zu Wlad, "und wir hätten dich hierbehalten müssen." Sie grinsten, aber sie meinten es ernst.

Der Grenzposten von Isaccea ist winzig, an normalen Tagen überqueren hier nur ein paar Frachtfahrzeuge die Donau. Jetzt platzt er aus allen Nähten. 6.000 Menschen sind allein hier in den ersten vier Tagen seit Kriegsbeginn angekommen. Hinter den Zollcontainern spielt sich ähnliches ab wie in Polen: Hilfsgruppen und Anwohner bieten Unterkünfte, Transport und Essen an. Eine ältere Ukrainerin weint haltlos, weil sie solche Hilfsbereitschaft nicht erwartet hat. Bisher scheint Rumänien den Andrang vor allem dank der Privatinitiativen gut zu bewältigen, zumal viele der ankommenden Flüchtlinge gleich weiterreisen, zu Verwandten und Freunden in Westeuropa.
Andere haben noch kein Ziel. Die Sergejews sitzen abends in einem Hotelzimmer in der nahen Stadt Tulcea: die Eltern Artjom und Alina, beide Mitte 30, die siebenjährige Lina, Sascha, 16, und Wlad, das Geburtstagskind. Sie sind jüdische, russischsprachige Ukrainer aus Odessa, Artjom trägt die Kippa unter seiner Schiebermütze. Zusammen mit Alina hat er in den vergangenen Jahren eine IT-Firma aufgebaut, sie programmieren Websites für Kunden überall in der russischsprachigen Welt.

Der Aufbau der Firma sei nicht leicht gewesen, sagt Artjom. In den Anfangsjahren kämpften sie mit den Folgen der alten sowjetischen Verwaltungsmentalität, mit schmiergeldhungrigen Beamten, die ihnen das Leben schwer machten. Im Laufe der Jahre aber, während die Ukrainer nach und nach lernten, gegen korrupte Politiker auf die Straße zu gehen, habe sich das Land gewandelt – von oben wie von unten.
"Genau das ist es, was Putin an der Ukraine nicht passt", sagt Alina. "Er will Sklaven, keine freien Menschen."
Irgendwann im Laufe des Abends findet Sascha, der mittlere Sohn, im Internet ein Video, aufgenommen vor dem Eingang des Mehrfamilienhauses, das die Sergejews in Odessa hinter sich gelassen haben. Draußen auf dem Bürgersteig sitzen ihre Nachbarn, umringt von Getränkekisten voller Molotow-Cocktails, und warten auf die Ankunft der Russen.
Artjom schluckt. "Es ist kein gutes Gefühl, das Land zu verlassen, wenn man es verteidigen müsste", sagt er. "Aber die Kinder brauchen mich dringender."
"Papa, ich liebe dich, aber warum bist du nicht bei uns?", sagte die Tochter am Telefon
Wegen der Kinder sind auch sie zurückgekommen: Am Sonntag, dem vierten Tag des Krieges, stehen zwei Männer mit tiefen Augenringen vor einem Auto mit deutschem Kennzeichen. Wladimir und Pawel sind die letzten 20 Stunden durchgefahren, aus Delmenhorst in Niedersachsen nach Medyka, an die polnisch-ukrainische Grenze. Am Steuer haben sie sich abgewechselt, auf der Fahrt kaum gesprochen oder gegessen. Jeder, sagt Pawel, sei in seinem Kopf mit der Angst allein gewesen.
Die Männer arbeiten in Deutschland als Maurer auf dem Bau. Ihre Familien aber sind Nachbarn in Winnyzja, derselben Stadt, aus der auch Jewgenij stammt, der Apfelsaftproduzent, der über Rumänien zurückgekehrt ist. Als sie ihrem Chef sagten, dass sie in ihre Heimat müssten, um ihre Frauen und Kinder zu retten, drückte der ihnen seine Autoschlüssel und etwas Geld in die Hand. Im Kofferraum haben sie Wasser und Lebensmittel gepackt, ins Handschuhfach Zigaretten, mit denen Pawel und Wladimir das unerträgliche Warten bekämpfen.

Wladimir trägt eine Mütze mit Tarnmuster, Pawel hat sich die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. "Wir sind auf der Flucht, auch wenn wir auf der anderen Seite stehen. Aber alles, was unsere Frauen und Töchter gerade durchmachen, erleben wir mit ihnen", sagt Pawel. Wenn er spricht, lässt er immer wieder kurze Pausen, als würde er um Luft ringen. Seine Gedanken, sagt Pawel, würde nicht mehr richtig funktionieren, drei Tage habe er kaum geschlafen – genauso wenig wie seine Familie.
Losgegangen war alles am Donnerstagmorgen mit einem Anruf seiner Frau. Am Telefon hatte Pawel Tanja kaum verstanden, weil sie so weinte und schrie. Im Hintergrund, sagt er, habe er die Detonationen in der Stadt hören können. "Was sollen wir tun? Was sollen wir tun?", hatte Tanja immer wieder gerufen.
Am schwierigsten seien die Gespräche mit seiner Tochter gewesen, sagt Pawel. Er zögert. Dann sagt er es doch. "Papa, ich liebe dich, aber warum bist du nicht bei uns?", habe sie zu ihm gesagt. Als er das erzählt, schwankt seine Stimme. Er dreht sich um, geht ein paar Schritte zur Seite. Als er wiederkommt, drückt er den Rücken durch, zündet sich noch eine Zigarette an und sagt, dass er sauer auf sich sei, weil er sie nicht beschützen könne.
Mittlerweile haben Frau und Tochter es bis 25 Kilometer vor die Grenze geschafft. "Ich kann hören, wie erschöpft sie sind, aber meine Frau versucht mich am Telefon zu beruhigen", sagt Pawel. Wie lange es noch dauere, kann im Moment keiner sagen. Und auch wie es danach weitergeht, wissen Pawel und Wladimir noch nicht. Vielleicht erst einmal in ein Hostel in Polen, damit die Familien schlafen können. Vielleicht aber auch gleich weiter nach Deutschland. Pawel zuckt mit den Schultern und schaut in Richtung Grenzübergang, der sich am Horizont in die Landschaft malt. Rüber können die beiden Männer nicht, weil man sie sonst als kampffähige Männer nicht mehr aus der Ukraine lassen würde. Fragt man Pawel, ob er denn kämpfen wolle, wenn der Krieg weitergeht, sagt er, dass er erst einmal seine Familie aus dem Land bekommen müsse. Dann werde er darüber nachdenken. Aber nicht jetzt. Nicht jetzt.
Die Schule wird zum Erstaufnahmelager
Przemyśl, eine polnische Grenzstadt: Hier leben seit Generationen Ukrainer. Schulleiter Piotr Pipka und sein Team haben ihre Schule in ein Erstaufnahmelager verwandelt. Es ist eine von vielen selbstorganisierten Einrichtungen, in denen jene Sicherheit finden, die nicht abgeholt werden können und erst mal irgendwo hinmüssen.
Im Untergeschoss kochen Frauen Stampfkartoffeln und Bigos in großen Kesseln, die älteren Schülerinnen und Schüler sortieren Kuscheltiere, Spielzeug, Jacken, Süßigkeiten. Alle sind beschäftigt, es hilft gegen die Angst.
Auf dem braunen Parkettfußboden in der Turnhalle haben sie Liegen aufgestellt, knapp hundert Schlafplätze – schon seit der zweiten Kriegsnacht sind alle belegt. Auf den Klettergerüsten an der Wand trocknen jetzt Handtücher. Eigentlich sollte diese Woche nach den Winterferien die Schule wieder losgehen. Aber die Kinder werden Online-Unterricht machen, sagt Pipka. Das seien sie ja inzwischen gewöhnt. Die Verwaltung hat bereits zugestimmt.
Rechts in der Ecke neben dem Fußballtor haben Julija Jatzenko und ihre Mutter Elena ihr Lager aufgeschlagen. Kola, Julijas sechsjähriger Sohn, spielt unter der Wolldecke verstecken. Sie sind aus Charkiw geflohen, aus der Ostukraine, rund 1.000 Kilometer entfernt. Sie hatten nicht mal mehr Zeit, ihre Originalpässe zu suchen, Elena hat bloß eine Kopie dabei. Die Frauen waren noch nie außerhalb der Ukraine, und obwohl in den benachbarten Gebieten schon seit 2014 gekämpft wird, haben sie nie daran gedacht, das Land zu verlassen. Zuhause haben sie vor allem russische Nachrichten gehört. "Sie haben gesagt, dass der Krieg sich nicht ausbreiten wird", sagt Julija. "Das seien nur böse Gerüchte." Sie hatten es geglaubt.
Zwischen Krieg und Frieden liegen nur wenige Kilometer. Wie nah der Krieg vielleicht noch kommen wird, darüber möchte niemand in den Nachbarländern der Ukraine nachdenken. Nicht jetzt.