Berlin Unterricht statt Krieg – das ukrainische Klassenzimmer

Eine ukrainische Lehrerin steht mit ihren elf Schülerinnen und Schülern wir einer Tafel
Ukrainische Kinder lernen im "Classroom for Ukraine" in Berlin mit ihrer Lehrerin Nataliia Khalil
© Catrin Boldebuck / stern
Zur Schule gehen: Der "Classroom for Ukraine" in Berlin bietet geflüchteten Mädchen und Jungen ein Stück Normalität. Die Stiftung stern unterstützt das Projekt.

Federtaschen und Stifte liegen bunt verstreut auf den Tischen, unter den Stühlen Rucksäcke und Schulranzen. Die Mädchen und Jungen schreiben konzentriert in ihre Hefte, ein paar tuscheln, eine spielt unter dem Tisch auf dem Handy – auf den ersten Blick sieht es im "Classroom for Ukraine" aus wie in jedem gewöhnlichen Klassenzimmer. Doch diese Kinder sind erst vor Kurzem vor dem Krieg in ihrer Heimat geflohen. Ein paar Jungs haben sich ein Plüschtier zur Verstärkung mitgebracht. Der neunjährige Renat, dunkelblonde Haare, roter Hoodie, war mit seiner Oma und seiner Tante zwei Tage im Bus unterwegs, er stammt aus Kiew und ging dort in die vierte Klasse. Seine Tischnachbarin Polina, langer brauner Zopf, ebenfalls 9 Jahre alt, stammt aus Rivne in der Westukraine.

Polina und Renat amüsieren sich über eine selbstgebastelte Flagge
Polina (l.) hält die ukrainische Fahne hoch, Renat, neben ihr, scheint das zu gefallen
© Catrin Boldebuck / stern

Ebenso wie Nataliia Khalil, die Lehrerin der bunt zusammengewürfelten Klasse. Die 33-Jährige machte gerade mit ihrem Mann in Ägypten Urlaub, als der Krieg ausbrach und sie nicht mehr zurück nach Hause konnte. "Ich hatte nur zwei, drei T-Shirts und Badesachen im Gepäck", erzählt sie. Keinen Computer, keine Zeugnisse, nichts. Aber sie strahlt übers ganze Gesicht, als sie auf Englisch sagt: "Erst hatte ich ein wenig Angst, ich dachte: In Deutschland herrschen strenge Regeln, die Menschen sind bestimmt alle ganz ernst. Aber die Deutschen sind so hilfsbereit und freundlich. Alle lächeln immerzu. Ich bin sehr dankbar dafür, wie wir aufgenommen wurden."

Aktion "Ein Ranzen für dich"

Die Stiftung stern und das Deutsche Kinderhilfswerk wollen den Jungen und Mädchen aus der Ukraine helfen, hier in Deutschland anzukommen. Möglichst viele Kinder sollen einen Schulranzen samt Grundausrüstung erhalten. Schon für 100 Euro kann unser Partner, das Deutsche Kinderhilfswerk, einen Ranzen oder Rucksack von namhaften Herstellern, ein Etui, dazu eine Sporttasche und ein Federmäppchen erwerben. Einrichtungen, die sich bewerben, haben die Möglichkeit, auch Kinder aus anderen Nationen mit ähnlichem Schicksal, mit einem Ranzen auszustatten.

Unterricht im Hinterhof

Die Kinder sitzen in einem modernen Loft in einem Hinterhof im Berliner Wedding. Normalerweise arbeiten hier Software-Entwickler und Campaigner für die nachhaltige Suchmaschine Ecosia, ein Non-Profit-Unternehmen. Von den Decken hängen schwarze Industrielampen, ein paar Tische mit Holzplatten wurden zusammengeschoben, die schwarzen Bürostühle sind viel zu groß für die Kinder. Viermal in der Woche findet hier von 10 bis 13 Uhr Unterricht statt. Es gibt zwei Gruppen: Klasse eins und zwei sowie Klasse drei und vier, insgesamt rund 40 Kinder.

Die Großen haben gerade Englisch. Das lernen Kinder in der Ukraine ab der ersten Klasse. Das Whiteboard, das normalerweise für Brainstormings genutzt wird, ist vollgeschrieben: Monday, Tuesday, Wednesday ..., Polina kann die Wochentage bereits fehlerfrei aufsagen. Englisch lernen die Kinder in der Ukraine ab der ersten Klasse. Deutsch spricht bisher keiner von ihnen, höchstens ein paar Brocken wie "Hallo" und "Tschuss". Deutsch wird häufig als zweite Fremdsprache ab der fünften Klasse gewählt.

Das ukrainische Schulsystem

Anders als in Deutschland werden die Kinder nicht nach der Primarstufe getrennt, sondern lernen gemeinsam bis zur neunten Klasse, also ähnlich wie an deutschen Gesamtschulen. Wer das Abitur machen möchte, geht weiter bis zur elften Klasse in die Schule. In der Ukraine gibt es Noten von 1 bis 12, wobei die Noten 10 bis 12 sehr gut sind – ähnlich wie das Punktesystem in der deutschen Oberstufe.

Zwei Freundinnen – eine Idee

Organisiert wurde der "Classroom for Ukraine" von Faina Karlitski und Burcak Sevilgen, die beiden sind befreundet. Karlitski arbeitet als Unternehmensberaterin für Boston Consulting, Sevilgen ist Lehrerin. "Als die Frauen und Kinder aus der Ukraine nach Berlin kamen, dachten wir uns: Die können doch nicht den ganzen Tag nur rumsitzen, sie brauchen andere Kinder – und die Mütter brauchen Entlastung", sagt Faina Karlitski, die als Dreijährige mit ihren Eltern nach Deutschland kam. Und während die offiziellen Stellen noch dabei waren zu sondieren, organisierten die beiden Frauen zusammen mit dem Kinderhilfswerk "Die Arche" innerhalb von zwei Wochen Lehrerinnen und die Räume von Ecosia, finanziert wird das Projekt unter anderem mit Spenden von der Stiftung stern. Gerade wurde eine Klasse in Köln eröffnet, weitere sind für Hamburg und Stuttgart geplant.

Ranzen und Federtaschen sind Spenden, aber auch "Classroom for Ukraine" kann in Zukunft bei der Aktion "Ein Ranzen für dich" von der Stiftung stern und dem Deutschen Kinderhilfswerk Schulranzen und Rucksäcke für Neuankömmlinge ordern. "Eine großartige Idee", sagt Faina Karlitski.

Die ukrainische Lehrerin Nataliia Khalil erfuhr über die sozialen Medien von dem Projekt "Classroom for Ukraine" in Berlin und bewarb sich. "Ich habe Fotos vom Unterricht in der Ukraine auf Instagram gezeigt – mein Diplom liegt ja zu Hause", sagt sie. Alles war super vorbereitet, doch was ist mit Unterrichtsmaterialien? "Wir dachten zunächst: Woher kriegen wir geeignete Schulbücher?", sagt Faina Karlitski. Aber die Lehrerinnen sagten: Brauchen wir nicht, haben wir doch alles online. Seit der Corona-Pandemie findet in der Ukraine sehr viel Unterricht virtuell statt. Auf Plattformen gibt es Erklärvideos und interaktive Lern-Tools. Viele Klassen, die durch die Flucht in alle Winde verstreut sind, lernen so weiterhin gemeinsam online.

Helfen Sie uns zu helfen. Ihre Spende wird zum Erwerb und Verteilen von Schulranzen samt Grundausstattung verwendet. Hier kommen Sie zu unserem Spendenformular. Oder auch: Stiftung stern e.V., IBAN DE90 2007 0000 0469 9500 01, Stichwort "Schulranzen"
Helfen Sie uns zu helfen. Ihre Spende wird zum Erwerb und Verteilen von Schulranzen samt Grundausstattung verwendet. Hier kommen Sie zu unserem Spendenformular. Oder auch: Stiftung stern e.V., IBAN DE90 2007 0000 0469 9500 01, Stichwort "Schulranzen"

Wie viele Kinder wollen in die Schule?

Laut Angaben des Bundesinnenministeriums sind bisher rund 300.000 Menschen aus der Ukraine nach Deutschland geflüchtet. Wahrscheinlich sind es noch mehr, weil viele bisher nicht offiziell registriert wurden. Etwa ein Drittel davon sind Kinder und Jugendliche. Wie viele es noch werden, kann derzeit niemand sagen. Laut Schätzungen könnten bis zu vier Millionen Menschen nach Deutschland kommen – darunter bis zu 500.000 ukrainische Kinder und Jugendliche. Sie sollen schnell ins deutsche Schulsystem integriert werden, darauf hat die Ständige Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz (KMK) hingewiesen. Soziale Kontakte zu Gleichaltrigen seien "gute Schutzfaktoren gegen psychische Belastungen". Es sei davon auszugehen, dass 25 bis 35 Prozent der Kinder unter schweren psychischen Belastungen leiden, schreiben die Wissenschaftler in einer ersten Stellungnahme.

Viele ukrainische Kinder und Jugendliche werden in sogenannten Willkommensklassen untergebracht. Diese Integrationsklassen wurden nach 2015 eingerichtet, als viele Geflüchtete aus Syrien in Deutschland Zuflucht suchten. Dort sollen nun auch Mädchen und Jungen aus der Ukraine mit Kindern aus anderen Nationen Deutsch lernen. Diese Klassen sind allerdings umstritten, denn es gibt weder feste Lehrpläne, häufig nicht mal ausgebildete Lehrer, vor allem aber, weil die Geflüchteten unter sich bleiben und nicht in normale Klassengemeinschaften integriert werden.

Die ukrainische Generalkonsulin Iryna Tybinka hat sich gegen die Aufnahme ukrainischer Schülerinnen und Schüler in Willkommensklassen ausgesprochen, sie fordert stattdessen eine "ukrainische Bildung". KMK-Präsidentin Karin Prien (CDU) lehnt das ab. Alle Kinder und Jugendlichen sollen das Angebot bekommen, Deutsch zu lernen, weil völlig offen sei, wann sie wieder zurückkehren könnten, so die Bildungspolitikerin.

Jedes Bundesland macht es anders

Die Bundesländer regeln Schulpflicht und Zugangsmöglichkeiten unterschiedlich. Unklar ist beispielsweise, ob Kinder bereits in Kita und Schule dürfen, bevor sie registriert sind – was lange dauern kann. Aber die meisten Bundesländer haben bereits angekündigt, unbürokratisch handeln zu wollen und stellen zusätzliche Lehrkräfte aus der Ukraine ein.

In Berlin können Renat und Polina so lange in den "Classroom for Ukraine" gehen, bis sie einen Platz an einer Regelschule bekommen haben. Noch bis zum Sommer soll es das Angebot geben. Dann, so hofft Faina Karlitski, haben alle Kinder einen Platz an einer deutschen Schule gefunden.

Die Englisch-Stunde ist vorbei, endlich Pause: Die Kinder packen Brote aus, manche toben durch den offenen Workspace, schnappen sich kleingeschnittenes Obst aus der offenen Küche, ein Junge zieht sich in einen Korbstuhl zurück. Sie wirken ausgelassen wie völlig normale Kinder. Aber über die Umstände ihrer Flucht und dazu, was mit ihren Vätern in der Ukraine ist, sollte man besser nicht fragen, sagt Lehrerin Khalil. Sie brauchen Zeit, das Erlebte zu verarbeiten. Renat hat auf seinen Block detailgetreu Panzer und einen Kampfjet gemalt. Viele Mütter telefonieren am Abend mit ihren Männern zu Hause an der Front. "Mir gefällt es hier, bellissimo", sagt Renat auf Ukrainisch, seine Lehrerin übersetzt für ihn. Er freut sich, dass es immer so viel zu essen gibt und löffelt mit Genuss einen Schokopudding mit Sahne. Polina findet es "cool" in Berlin, sie hat schon eine Menge Freunde. Dann erzählt sie noch, wie froh sie ist, hier in Sicherheit zu sein. Beide sagen zum Abschied, wie sehr sie sich darauf freuen, bald auf eine deutsche Schule zu gehen.