Das Olympiastadion, schon von weitem zu sehen bei der Anfahrt im Berliner Dauerregen: in warmes Blutrot getränkt. Klar ist da schon, dass hier an diesem Abend etwas Besonderes passieren soll, "Fußballgeschichte geschrieben" wird, wie man so schön sagt. Das allererste Heimspiel des 1. FC Union Berlin in der Champions League, die Underdogs aus dem Osten der Stadt in der riesigen Betonschüssel am Westrand der Metropole – da, wo doch die gute alte Hertha sonst ihre Heimspiele austrägt.
Hertha quält sich gerade durch die zweite Liga und ist in Berlin ungefähr so schwer angesagt wie Frank Zander oder Didi Hallervorden. Die Köpenicker dagegen in der Königsklasse des internationalen Fußballs, Stunden vor Anpfiff schon eine Völkerwanderung in rot-weiß, die S-Bahn fährt im 3-Minuten-Takt. Eine Besitznahme des Westens durch den Osten, und das auch noch am Tag der Deutschen Einheit – mehr Symbolträchtigkeit geht nun wirklich nicht.
Union Berlin arbeitet sich gerade durch die erste Krise
Geht es auch noch um Fußball? Ja, klar: 76.000 Zuschauer, ausverkauftes Haus, Union gegen den portugiesischen Vertreter vom SC Braga. Der 1. FC Union schrieb letzte Saison noch ein Fußball-Märchen, mit begrenzten Mitteln, finanziell und fußballerisch auf dem 4. Platz der Bundesliga. Die "Alte Försterei", die kleine enge Stadionkiste im Südosten von Berlin wurde zur uneinnehmbaren Festung und viele, die die Schnauze gehörig voll hatten vom seelenlosen Kommerz-Fußball der Ölscheich-Klubs und Brause-Vereine vom Typ RB Leipzig wärmten sich dort das Herz.
Jetzt arbeitet sich Union Berlin gerade durch die erste Krise, nach wettbewerbsübergreifend fünf Niederlagen in Serie gibt es an diesem Abend die sechste Klatsche. 2:3 gegen die Portugiesen, nach einer 2:0-Führung.
Aber es geht eben auch viel mehr als nur um Fußball. Vor dem Fan-Block des 1. FC Union hängt das ganze Spiel über ein großes Transparent: "Wir brauchen die Alte Försterei, wie die Luft zum Leben!" Ein heftiger Seitenhieb auf die Vereinsführung, die für die Champions-League-Spiele den Umzug ins große, aber eben immer auch etwas seelenlose Olympiastadion angeordnet hatte. Das bringt die größte Heimspielkulisse in der Vereinsgeschichte. Aber eben auch und vor allem, auch wenn darüber keiner aus der Vereinsspitze um Präsident Dirk Zingler gerne offen redet: mehr Geld. Rund zwei Millionen Euro pro Partie, wissen Insider. In der kleinen "Alten Försterei" mit ihren gut 20.000 Plätzen wären es nur 500.000.
Kann man im Kapitalismus überleben, sogar erfolgreich sein, ohne sich selbst komplett zu kapitalisieren, also: seine Seele zu verlieren? Gibt es ein richtiges Leben im Falschen? Das sind so die Fragen, die auch an diesem Abend verhandelt werden, wo Union nach aufopferungsvollem Kampf eben doch einsehen muss, dass es zu mehr als ehrlicher Fußball-Arbeit gegenwärtig (noch) nicht reicht.
Duell zweier Welten – Die Köpenicker bei den Königlichen

Droht die Gentrifizierung der "Eisern Union"?
Wohl kein Bundesliga-Verein in Deutschland ist ein so geschickter Mythos-Produzent seiner selbst wie dieser 1. FC Union. Der Kult um ein ganz anderes Fußball-Erlebnis wird gepflegt und gehegt, weil es der wahre Schatz ist, den es zu hüten gilt. Aber zwei Millionen Euro pro Champions-League-Heimspiel sind eben auch ein hübsches Sümmchen. In den proper sanierten Hipster-Altbauquartieren von Mitte, Prenzlauer Berg, Kreuzberg und Neukölln gilt es längst als schick, sich zu dem Köpenicker Arbeiterverein zu bekennen und so mancher Werbetexter, Web-Designer, Unternehmensberater oder Start-up-Gründer entdeckt bei diesem Verein gerade den erdigen Proleten in sich. Es droht sozusagen: die Gentrifizierung des 1. FC Union Berlin.
Nichts gegen die Atmosphäre im großen Olympiastadion, "Eisern Union!" scheppert es an diesem Abend auch dort von den Rängen, so laut, dass einem die Ohren wehtun, und bei der Gedenkminute für den im Alter von 98 Jahren verstorbenen Ehrenpräsidenten Günter Mielis ist für Sekunden noch die familiäre Wärme zu spüren, die diesen Verein auszeichnet. Ein alter weißhaariger Mann mit Krückstock erscheint auf den riesigen Video-Bildschirmen in der Arena, ein Trauerflor ziert sein Foto. Nichts und niemand wird vergessen. Eisern Union!
Aber: Es ist eben nicht das eigene Wohnzimmer, es fehlt, um mal ein paar Stereotype in die Welt zu setzen: die Couchgarnitur und die Blümchentapete, und auch der leckere Filterkaffee. Die "Exotisierung" des Ostens hat Vereinspräsident Dirk Zingler am Tag der Deutschen Einheit öffentlich kritisiert – ohne allerdings zu erwähnen, dass er an der "Exotisierung" seines Vereins als der ganz andere Fußball-Klub, als nahbare und ehrliche Haut im Riesenbusiness also, kräftig und mit großem Geschick über Jahre selbst gearbeitet hat.
Widersprüche über Widersprüche. Während der heiß ersehnten Heim-Premiere gegen Braga zeigte sich, dass das Modell Union Berlin nicht nur im mental-kulturellen Feuilleton-Himmel, sondern auch im fußballhandwerklichen Kerngeschäft an seine Grenzen stößt.
"Wir werden immer wieder aufstehen!"
Der Fußball, der hier immer mehr gearbeitet als gespielt wurde, hat etwas von seiner furchterregenden Kraft verloren. Das taktische Konzept des knorzigen Schweizer Erfolgstrainers Urs Fischer – schnelles Umschaltspiel, hohe Bälle in die Spitze, gute Organisation – haben die Gegner mittlerweile entschlüsselt.
Mit begrenzten fußballerischen Möglichkeiten kann man das Unmögliche schaffen. Manchmal. Aber eben nicht immer.
In der vierten Minute der Nachspielzeit erzielt Andre Castro für den SC Braga das 3:2-Siegtor. Für Sekunden herrscht Totenstille im weiten Rund. Dann hört man Trommelschläge. Und dann singen Zigtausende in rot-weiß: "FC Union! Unsre Liebe! Unsre Mannschaft! Unser Stolz, unser Verein, Union Berlin!" Die Spieler von Union stehen wie betäubt auf dem Rasen herum. Aber die Fans singen weiter, immer weiter. Als die Mannschaft zur Gegengerade kommt, wo die ganz harten Fans stehen, wird sie gefeiert, als hätte sie gerade das Finale erreicht. Der Stadionsprecher ruft ins Mikro: "Wir werden immer wieder aufstehen!"
Mythos hin oder her, Kapitalismus hin oder her. Das ist dann eben doch ein Gänsehaut-Moment, den man wahrscheinlich nur bei diesem Verein erlebt – einfach unbezahlbar.