Der Händler, der der Société Générale (SG) durch betrügerische Spekulationen einen Verlust von fast fünf Milliarden Euro bescherte, hat bis zum Zehnfachen der Summe aufs Spiel gesetzt. Ein SG-Mitarbeiter bestätigte, das Volumen der Positionen habe sich auf "mehrere zehn Milliarden Euro" summiert. Zahlreiche Zeitungen berichteten von bis zu 50 Milliarden. Damit hätte der Einsatz des Future-Händlers Jérôme Kerviel weit über dem gesamten Börsenwert der Bank von 35,9 Milliarden Euro gelegen. Am Donnerstag hatte die SG den Betrugsfall bekannt gegeben.
Als vergangene Woche der Börseneinbruch begann, flogen die verschleierten Positionen des Händlers auf. Sie mussten von der Société Générale mit den immensen Verlusten von 4,9 Milliarden Euro geschlossen werden, bevor der Markt über den Schwindel informiert wurde. Die Bank erstattete gegen ihn Anzeige wegen Fälschung von Bankunterlagen und deren Nutzung sowie wegen Manipulation des Computersystems.
Kerviel nicht untergetaucht
Seine Anwältin Elisabeth Meyer erklärte am Freitag, Kerviel sei nicht untergetaucht. "Er steht den Justizbehörden zur Verfügung", sagte sie dem Sender BFM. Über seine Motive wird weiter heftig spekuliert, da er sich laut SG-Chef Daniel Bouton nicht persönlich bereichert hat. Ob der diplomierte Finanzwissenschaftler aus reiner Böswilligkeit handelte, wie die Bank nahe legte, müssen die Ermittlungen der französischen Zentralbank Banque de France ergeben. Drei Gewerkschafter erklärten, SG-Bankmanager hätten sie über "familiäre Probleme" des Schwindlers informiert.
In der Nachbarschaft erinnert man sich an den 31-Jährigen, auch seine Exkollegen wissen einiges zu berichten. Das Bild, das sie zeichnen, gibt aber wenig Aufschluss darüber, was Kerviel zu seiner schier unglaublichen Zockerei geführt haben mag. Anders als der Jungbörsianer Nick Leeson, der seine Barings Bank als 28-Jähriger auf dem Weg zu Weltruhm in den Ruin trieb, galt Kerviel als zurückgezogen, sehr schüchtern. "Er war introvertiert, fühlte sich nie wohl in seiner Haut", sagte eine Exkollegin von der Société Générale der Zeitung "Le Parisien".
Verführerisch und elegant
Vom Verschwinden des Vaters vor einigen Jahren ist die Rede, von einer Frau, die ihn verlassen haben soll. Auf dem Bild, das am Donnerstagabend durch die Welt ging und von der Homepage seiner Bank stammt, wirkt er unzufrieden, unsicher. "Er sah gut aus, war höflich und schick gekleidet, und er hat sich gut mit meinem Hund verstanden", sagt eine Nachbarin aus dem zweiten Stock, die ihn ab und an getroffen haben will, zuletzt vor drei Wochen. Anne Gillier, die in einem Maklerbüro um die Ecke von Kerviels Wohnung arbeitet, erinnert sich an einen hübschen Mann. "Er war verführerisch, sehr elegant. Aber er war immer alleine, nie sah ich ihn mit einer Frau oder einem anderen Mann zusammen." Auf der Internet-Plattform Facebook schwanden dem Schwindler indes die Freunde: am Donnerstag waren es noch 11, Freitag blieb genau ein virtueller Freund.
Kerviel wuchs in der Bretagne-Stadt Pont-l'Abbé auf, Bürgermeister Thierry Mavic zeigte sich "völlig überrumpelt" von der Megaschwindelei seines "nachdenklichen, ein bisschen reservierten" Ex-Einwohners. Sein Vater war Lehrer, die Mutter betrieb einen Friseursalon. Kerviel studierte Wirtschaftswissenschaften in Nantes und Lyon, eine seiner früheren Dozentinnen beschrieb ihn als "brillanten Studenten". Bei der Société Générale begann er vor acht Jahren in der Abteilung für Risikomanagement, wo er sein intimes Wissen über die Sicherheitssysteme der Bank ansammelte.
Es drohen bis zu zehn Jahre Haft
Er wurde schließlich in die Abteilung für Termingeschäfte in Europa versetzt, war aber nur für unspektakuläre Transaktionen verantwortlich. Mit einem Jahresgehalt unter 100.000 Euro gehörte er keineswegs zu den Starbrokern, wie Institutschef Daniel Bouton betonte. Wurde der stille Mann gewaltig unterschätzt? Bei seinem Megabetrug sei Kerviel "außerordentlich ausgefeilt und intelligent" vorgegangen, befand Bouton in einer Mischung aus Erschütterung und Bewunderung. Die Bank erstattete Anzeige wegen Fälschung von Dokumenten und deren Verwendung sowie Manipulation des Computersystems. Wird er verurteilt, drohen ihm bis zu zehn Jahre Haft.
Zahlreiche Börsianer bezweifelten aber angesichts des gewaltigen Investitionsbetrages, dass Kerviel völlig isoliert vorgegangen sein könnte. Zentralbankchef Christian Noyer stellte sich dagegen hinter die These des Einzelbetrugs. Das Ausmaß des Schadens sei Zufall gewesen, sagte. Ohne den Börsencrash vom Montag wäre der Verlust weit geringer ausgefallen.
Mit ganzseitigen Zeitungsanzeigen entschuldigte sich die Institutsleitung bei ihren Aktionären. "Ich verstehe ihre Enttäuschung und ihren Zorn", schrieb SG-Chef Bouton. "Mir ist bewusst, was der sinkende Börsenkurs für Sie bedeutet, ich bitte Sie, meine Entschuldigung und mein tiefes Bedauern anzunehmen." Ein Rücktrittsgesuch Boutons hatte die Bank zuvor abgelehnt. Einige Branchenexperten bezweifelten jedoch, dass der Vorstandschef noch lange seinen Posten behalten könne.
In den vergangenen Monaten hat die SG-Aktie fast die Hälfte ihres Wertes verloren. Nach Bekanntwerden des Skandals am Donnerstag fiel sie um weitere 4,13 Prozent, am Freitagnachmittag stand die Aktie mit 1,1 Prozent erstmals wieder im Plus. Die Deutsche Bank stufte die Aktien von Kaufen auf Halten herab, UBS ebenfalls von Kaufen auf neutral.
"Kultur der Primadonnen"
Der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy bezeichnete den Skandal als "internen Betrugsfall mit Auswirkungen auf den Gewinn der Société Générale". Die Solidität des französischen Finanzsystems sei nicht betroffen, sagte er bei seinem Staatsbesuch in Indien. Bei einem Gipfeltreffen mit den Regierungschefs aus Deutschland, Italien und Großbritannien am Dienstag in London wolle er Vorschläge für mehr Transparenz im globalen Finanzsystem vorlegen.
Hochrangige Banker fürchten einen Imageschaden für die Finanzindustrie. "Das Ganze schadet dem Bankgeschäft enorm in einer Zeit, in der die Menschen sich ohnehin große Sorgen über Risiken machen", sagte der Chef der italienischen Großbank Intesa Sanpaolo, Corrado Passera, am Rande des Weltwirtschaftsforums in Davos. Der Investmentbanking-Chef einer europäischen Großbank monierte: "Wir haben keine Banken-Kultur mehr, wir haben eine Kultur der Primadonnen. Sie wollen nur Macht, und es muss immer größer und schneller gehen." Hochrangige Zentralbanker warnten vor einem weiteren Verlust von Vertrauen in die Finanzbranche.
Auch andere verwundbar?
Der Skandal wirft nach Ansicht von Experten vor allem die Frage auf, ob die Risikomanagementsysteme der Banken ausreichend sind. "Wir müssen uns anschauen, ob andere Institute nicht auch verwundbar sind und sich mit der selben Krankheit infizieren können", sagte der Direktor des Peterson-Instituts für internationale Wirtschaft, Fred Bergsten.
EU-Binnenmarktkommissar Charlie McCreevy hält neue Regeln zur Risikokontrolle vorerst jedoch nicht für notwendig. "Der wichtige Punkt ist, daran zu erinnern, dass es ein Betrugsfall war. Diese Dinge passieren", sagte McCreevy der Nachrichtenagentur Reuters. Das Management habe aber bereits weitere Risikokontrollen eingebaut und alle Verfahren überprüft. "Ich bin sicher, dass sich die französischen Aufsichtsbehörden die Situation ansehen werden."
In Deutschland halten sich Banken bislang zurück mit Äußerungen zu dem Fall bei Société Générale. Noch wisse keiner, was dort tatsächlich passiert sei, hieß es bei Großbanken in Frankfurt unisono. Die BaFin versicherte, es gebe hierzulande ein engmaschiges Netz an gesetzlichen Vorschriften für Handelsgeschäfte. Kriminelle Energie bei einzelnen Menschen sei jedoch nie komplett auszuschließen.