STERN 22/2002 Raus aus den Miesen

Fast drei Millionen Haushalte in Deutschland leben über ihre Verhältnisse. Das neue Insolvenzrecht bietet einen Ausweg aus der Überschuldung.

Geschuftet hat er bis zum Umfallen. Mit seinem geleasten Lkw Autoteile ausgefahren: München, Mittenwald und zurück. Und 500-Kilometer-Touren, immer nachts. So hatte sich Frank Schöne die Selbstständigkeit nicht vorgestellt. Denn Stress hatte er schon in seinem gelernten Beruf als Koch genug gehabt. Trotz Ausbildung in einem Sterne-Restaurant hängte er den Job an den Nagel, verdingte sich bei einer Spedition als Subunternehmer, damals, 1990. Den Lkw musste er mitbringen - also leasen. Dass der auch mal kaputtgehen kann, daran hat er nicht gedacht. »Von Betriebswirtschaft hatte ich doch keine Ahnung«, sagt er die Schultern zuckend und rückt sich auf seinem Sessel neu zurecht. Tisch, zwei Sessel, Sofa, kleines Regal - seine Zweizimmerwohnung in München ist spärlich möbliert. Ungefiltert braust der Verkehrslärm von der nahe gelegenen Schnellstraße herein.

Rote Zahlen

»Bei einer Reparatur blieb es nicht. Es kamen die Steuervorauszahlungen ans Finanzamt«, stöhnt der 33-Jährige. Nicht nur, dass nicht genug Geld übrig blieb, es wurde immer weniger. Auch wenn er im Monat 5.000 bis 10.000 Euro verdiente. Schleichend sackte sein Konto weiter in die roten Zahlen. Der Dispo-Kredit von 15.000 Euro war fast immer ausgereizt, dann reichte auch das nicht mehr, die Bank machte Druck. Höhere Schulden bedeuteten noch mehr Zinsen. »Irgendwann habe ich aufgehört, aufs Konto zu gucken«, sagt Schöne.

Stichwort: Privatinsolvenz

Ein typischer Fall: Zunächst schuldet die Bank um. Irgendwann bekämpft man nur noch die steigenden Zinsen. Aus eigener Kraft kommen die meisten aus dieser Schuldenspirale nicht mehr heraus. Der juristische Fachbegriff dafür lautet: Privatinsolvenz. Pleite auf der ganzen Linie. Laut Statistik trifft das auf 2,8 Millionen Haushalte in Deutschland zu. Damit diese Zahl nicht noch weiter wächst, hat der Gesetzgeber bereits Anfang 1999 das Verbraucherinsolvenzverfahren geschaffen. Wer sieben Jahre lang seine Schulden abstottert, bekommt nach dieser »Wohlverhaltensperiode« den Rest erlassen. Voraussetzung: Während dieser Zeit dürfen keine weiteren Schulden auflaufen.

Rettung durch Insolvenzverfahren?

Die Idee klingt gut. Trotzdem konnte bis jetzt kaum ein Prozent der überschuldeten Haushalte in Deutschland diese Möglichkeit nutzen. Denn das Gesetz weist eine entscheidende Schwachstelle auf: Um ein Insolvenzverfahren überhaupt eröffnen zu können, fallen Gerichtskosten von mindestens 1.500 Euro an. Die können die meisten nicht bezahlen. Wer pleite ist, hat keine 1.500 Euro. Der Weg zum Anwalt kostet zusätzlich. Darum hat der Gesetzgeber nachgebessert: Seit Dezember 2001 besteht die Möglichkeit, die Gerichtskosten abzustottern.

Lange Wartezeiten

Der Run auf die Gerichte aber bleibt weiter aus, obwohl Experten von einer Verdrei- bis -vierfachung der Anträge ausgegangen sind. Die Erklärung ist einfach: Vor einem Gerichtsverfahren steht in der Regel das Gespräch in der Schuldnerberatungsstelle. Und dort sind die Wartezeiten lang. Beim Allgemeinen Sozialdienst in München zum Beispiel dauert es drei Monate, bis der Verschuldete einen Termin bekommt. Teilweise liegen die Wartezeiten bei bis zu neun Monaten. »Die Lage ist eher kritischer geworden. Denn auch mit der Einführung des Insolvenzgesetzes wurden die Beraterstellen nicht aufgestockt. Auf etwa 50.000 Einwohner kommt ein Berater«, sagt Geschäftsführerin Claudia Kurzbuch von der Bundesarbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung in Kassel.

Angst und Scham

Bis zu einem gerichtlichen Verfahren ist es ohnehin ein langer Weg. Scham-, Angst- und Schuldgefühle halten die meisten davon ab, über ihre Misere zu reden. »Ich hatte aufgehört, den Briefkasten zu leeren«, sagt die 44-jährige Monika Daumann. »Du fühlst dich sowieso schon schlecht.« Wie Frank Schöne. »Ich kam mir so lumpig vor.« Nachdem Gerichtsvollzieher und Polizei ihm eines Nachts alles Pfändbare aus der Wohnung geräumt hatten, während er Zeitungen ausfuhr, um sich über Wasser zu halten, stand sein Entschluss fest: Weg hier. Er haute ab nach Mexiko. Aber obwohl er Spanisch sprechen konnte, weil er als Koch eine Zeit lang in Spanien gearbeitet hatte, fühlte er sich fremd. Nach einem Jahr kam er zurück. »Zunächst habe ich Bier ausgefahren, von meinem Gehalt wurde bis auf 600 Euro alles gepfändet. Aber ich wollte es schaffen, die Schulden irgendwie loswerden«, sagt Schöne.

»Alle wollen als Erste ans Geld«

Von der Schuldnerberatungsstelle kam zunächst keine Hilfe. Bereits 1997 hörte Schöne, dass ein Insolvenzverfahren für Privatpersonen kommen sollte, aber sein Fall konnte noch nicht bearbeitet werden. Grund wie so oft: Personalmangel. Als er fast schon wieder aufgeben wollte, hat es mit einer außergerichtlichen Einigung doch noch geklappt. Dafür wurde zunächst ein Schuldenbereinigungsplan aufgestellt. Anteilig an der Höhe der Außenstände bekommen die Gläubiger einen bestimmten Prozentsatz des Geldes, das monatlich verteilt wird. »Allein ist man echt überfordert, weil von den Gläubigern keiner freiwillig verzichten will, alle wollen als Erste ans Geld«, sagt Schöne.

Hoffnung auf Schuldenerlass

Erst als er den offiziellen Schuldenbereinigungsplan der Beratungsstelle in der Hand hielt, erklärte sich das Finanzamt als Gläubiger bereit, auf einen Teil der Forderungen zu verzichten. Der Stempel der Stadt München mag das Amtseinverständnis erleichtert haben. Von den insgesamt 50.000 Euro Schulden wird Schöne auf diese Art nicht mehr als ein Viertel abbezahlen - wenn ihm nach dem neuen Gesetz nach sechs Jahren die Restschuld erlassen wird. »Noch dreieinhalb Jahre.« Fast verblüfft blickt er über seine Brillenränder, als rücke das Ende der Frist in diesem Moment in greifbare Nähe. Dann bleibt ihm von seinem Job - seit vier Jahren ist er bei einem Gemüsehändler auf dem Viktualienmarkt in München fest angestellt - endlich mehr übrig. Davon will er sich die ersten eigenen Möbel kaufen. Das weiß er jetzt schon. »Wenn ich für meine Schulden wenigstens in Saus und Braus gelebt hätte - so jedoch bedauere ich diese Jahre wie nichts in meinem Leben«, sagt Schöne und zuckt wieder mit den Schultern, aber dabei lächelt er.

Schuldnerberatung München, Innenstadt

Auf dem Klingelschild stehen nur vier Namen. Da in dem Rest des Hauses Wohnungen sind, vermutet man eine Wohngemeinschaft dahinter. Als Amt verstehen sich die Mitarbeiter auch nicht. »Wir wollen anonym bleiben«, sagt Berater Erwin Kainz. Auf seinem Schreibtisch liegen die Unterlagen kreuz und quer verstreut. Die Gespräche führt er sowieso viel lieber an einem separaten Tisch. Die Sitzecke auf dem Parkettboden hat schon bessere Zeiten erlebt. »Die Leute, die herkommen, müssen merken, dass wir sie ernst nehmen«, sagt Kainz. Kumpelhaft wirkt er mit seinen Ökosandalen, leuchtend grünen Strümpfen und den längeren, etwas fisseligen Haaren. Kainz steht auf der Seite der Betroffenen. Seine Biografie lief schließlich auch nicht glatt. Er ist noch nicht mal ausgebildeter Sozialarbeiter. »Ich hab 15 Jahre als Bankkaufmann gearbeitet. Bis zum Abteilungsleiter hab ich mich hochgedient.« Den steigenden Arbeitsdruck konnte er irgendwann nur mit immer mehr Alkohol bewältigen. Da hat er die Reißleine gezogen und ist ausgestiegen. Über Bekannte ist er zur Schuldnerberatung gekommen. Seit 13 Jahren ist er jetzt hier. »Finanziell war das ein Rückschritt, aber ich hatte ja keine familiären Verpflichtungen«, sagt Kainz und steckt sich die Zigarette an, die er beim Erzählen selbst gedreht hat. Mit Alkohol hat er jetzt kein Problem mehr. Im Gegensatz zu einigen seiner Kunden. Vermutlich erzählt er seine Geschichte deshalb ganz gern. Das schafft Vertrauen.

Besuch beim Sozialreferat

der Stadt München. Klaus Hofmeister ist für die Verteilung von 300 Millionen Euro Sozialhilfegeldern zuständig, aber auch Chef der Schuldnerberatung. Von Gemütlichkeit hält er offenbar nichts. Graues Linoleum und kaltes Deckenlicht verleihen seinem Büro nur wenig Heimeligkeit. Blass hockt Hofmeister hinter den hochragenden Papierstapeln. Auch Abends wälzt er juristische Fachliteratur, um selbst die Feinheiten des Verbraucherinsolvenzrechts noch zu durchdringen. Ein Arbeitstier. Einen Roman hat er seit zwei Jahren nicht gelesen. Aber auf seinem Gebiet kann ihm keiner etwas vormachen. Hofmeister erzählt von den Veränderungen, die das neue Insolvenzrecht mit sich gebracht hat: »Früher haben die Gläubiger das Insolvenzrecht nicht ernst genommen. Wussten sie doch, dass nur die wenigsten die Gerichtskosten bezahlen konnten. Jetzt lassen sich die meisten auf eine außergerichtliche Lösung ein.« Tritt die Schuldnerberatungsstelle dann auf den Plan, stellen die Banken und großen Inkassobüros ihre Zwangsvollstreckungen oft ein, um weitere Kosten zu sparen und auf diese Weise wenigstens einen Teil ihres Geldes zurückzubekommen.

»Nicht genug für's Essen«

Als eine der Ersten profitiert Silvia Hoppe vom neuen Verfahren. Die 41-Jährige hat in den vergangenen Jahren viel mitgemacht: Bis 1999 war sie bei der Post angestellt. Ihr Mann hörte irgendwann auf zu arbeiten, trieb sich herum, kümmerte sich nicht mehr um sie und die vier Kinder. »Immer schlimmer wurde das«, sagt sie. Zweimal kam er ins Gefängnis, zweimal reichte sie die Scheidung ein, zog sie zweimal wieder zurück. Silvia Hoppe hat Bürgschaften für ihren Mann unterschrieben. Durch Kreditkartenbetrügereien erhöhten sich die Schulden auf 50.000 Euro. »Mir wurde so viel vom Lohn gepfändet, dass manchmal nicht genug fürs Essen übrig war«, erinnert sie sich.

Positiv denken

Schließlich ging sie zur Schuldnerberatung. Ein Insolvenzverfahren kam auch für sie zunächst nicht infrage, weil sie die Gerichtskosten nicht bezahlen konnte. Unter den veränderten Vorschriften hat es geklappt. Gut fünf Jahre noch muss sie versuchen, einen Teil der Schulden abzustottern, dann wird der Rest erlassen. Pläne für die Zeit danach hat sie bislang nicht. An der bitteren Hypothek, die ihr Mann ihr hinterlassen hat, wird sie wahrscheinlich auch noch tragen, wenn die Schulden längst bezahlt sind. Aber früher hätte sie gar nicht den Mut gehabt, darüber zu sprechen. »Klar gibt es auch immer hoffnungslose Fälle«, weiß Erwin Kainz. Aber er freut sich über jeden, dem er helfen kann. Sein Erfolgsgeheimnis: Positiv denken. Die Statistik gibt ihm Recht: 43 Prozent seiner Fälle hat er für die Betroffenen zu einem guten Abschluss gebracht.

Wieder ein ganz normales Leben

führen zu können ist jedoch nicht einfach. Frank Schöne hat bis jetzt kein neues Konto. Keine Bank richtet ihm wegen seiner Einträge bei der Schuldnerzentrale Schufa eines ein. Den Lohn lässt er sich auf das Konto seiner Mutter im Allgäu auszahlen. Auch auf Telefonanschluss und EC-Karte muss er verzichten. Wenigstens sein Arbeitgeber hat Verständnis gezeigt und ihn trotz der Lohnpfändung eingestellt, sonst wär's wie einst beim Hauptmann von Köpenick: Ohne Arbeit keine Wohnung und ohne Wohnung keine Papiere.

Elke Schulze

Neues Recht: Weg aus der Schuldenfalle

Das Insolvenzrecht wurde neu geregelt: Privat Verschuldete finden jetzt besser Hilfe. Verbraucher und ehemalige Selbstständige, die nicht mehr als 20 Gläubiger haben, können das neue Verfahren nutzen. Das seit 1999 gültige Recht war unpraktikabel, weil

* kaum jemand die im Voraus fälligen Gerichtskosten von mindestens 3000 Mark bezahlen konnte,

* kein neues Personal zur Bearbeitung eingestellt wurde (Wartezeit bei den Beratungsstellen etwa drei Monate).

Die wichtigsten Änderungen:

* Die Verfahrenskosten werden nicht mehr im Voraus bezahlt, sondern bis zur Restschuldbefreiung gestundet.

* Die Wohlverhaltensperiode wird von sieben auf sechs Jahre verkürzt und auf das Verfahren angerechnet.