Ikea-Katalog Er ist da!

Aus dem Briefkasten des Nachbarn blitzt er hervor. Ildikó von Kürthy hat den neuen Ikea-Katalog gestohlen - und überlegt, ob sich die Straftat gelohnt hat.

Ja, ich lebe mit Verbrechern unter einem Dach. Ich habe zwar einen konkreten Verdacht, möchte an dieser Stelle aber keine Namen nennen - zumal ich nciht sicher bin, ob das Entwenden eines kostenfreien kataloges juristisch gesehen eine Straftat darstellt. Ich vermute, es handelt sich um einen weiblichen Serientäter, der seit etwa vier Jahren aktiv ist und mir jeden Spätsommer den Ikea-Katalog aus dem Briefkasten klaut.

Um was für ein würdeloses Geschöpf muss es sich handeln, fragte ich mich immer wieder. Bis ich vergangene Woche Eigeninitiative ergriff und in einem unbeoachteten Moment den Ikea-Katalog meines Nachbarn an mich nahm.

Der Ikea-Katalog ist ein soziologisch wertvolles Dokument, und ich bin nicht länger bereit, darauf zu verzichten. Er sagt uns, wie wir sind, oder, wenn wir nicht so sind, wie wir sein sollten. Ich erinnere mich gut an die Irritation, die die Ausgabe von 1999 - für mich die vorerst letzte, dann zog die Verbrecherin in unser Haus ein - bei mir auslöste. Der Text zum Bild eines Doppelbettes lautete: "Weil wir uns beim Lesen sowieso immer eng zusammenkuscheln, brauchen wir nur eine Leseleuchte." Unschwer zu erahnen, was so ein Statement bei einer damals noch jungen Frau auslöste, die sich nicht einmal sicher ist, ob sie ihre Wohnung, geschweige denn ihre Leseleuchte mit ihrem Partner teilen möchte. Im übrigen ist mir bis heute kein Paar bekannt, das sich in beklemmender Innigkeit abends unter eine Lichtquelle quetscht.

Jedoch, man darf den Einfluss nicht unterschätzen, den der Ikea-Katalog auf das globale Wohn- und Lebensgefühl hat. Er erscheint in 31 Ländern mit einer Auflage von, hey, 130 Millionen. Und ich bin sicher, diese 130 Millionen Menschen grübeln seit vergangener Woche alle über folgenden fragen: 1. Gibt es in Schweden keine blonden Leute mehr? 2. Wer zur Hölle kauft eigentlich noch Klippan, das Sofa, das aussieht wie ein unvollendeter Sarg und schon seit gut 20 jahren im Programm ist? 3. Was läuft falsch in meinem Leben?

Tatsächlich hat sich mal irgendein völlig Bekloppter die Mühe gemacht, die "großen, blonden Schweden" im Katalog von 1998 zu zählen. Schön, wenn man sonst nichts zu tun hat. Also, vor sechs Jahren waren es 149 typische Nordländer. Im aktuellen Katalog sind es 19 - von mir großzügig berechnet, weil ich die bereits ergraute Dame auf Seite 110 und die Mutter auf Seite 22 mitgezählt habe. Die ist zwar blond, aber dem Kennerauge verrät der dunkelbraune Ansatz die Mogelpackung.

Die Ikea-Philosophen wollen der Menschheit, gültig bis August 2004, drei Werte vermitteln: Multikultur, Geselligkeit und Kinderliebe.

Gleich auf den ersten Seiten des Katalogs entsteht der Eindruck, man sei eine verkrachte Existenz, wenn nicht ständig mindestens fünf Personen im Wohnzimmer rumlungern, wovon wenigstens drei Kinder sind, von denen zwei verschiedene Hautfarben habe. Kinder sind sowieso irre angesagt. Immer. Beschämend der Anblick der munteren Asiatin in massiver Kiefer auf Seite 108, die sich ganz doll freut, dass ihre Tochter sie beim Arbeiten stört. Das sollte uns durchschnittlichen Deutschen, die ihre 1,3 Kinder gern tagsüber in den Hort geben, zum Nachdenken anregen.

Nein, es geht längst nicht mehr nur um Möbel. Vorbei die Zeiten, in denen man nur ein paar Ikea-Möbelnamen in den Raum werfen musste, und alle sich reflexartig vor Lachen bogen. 'Gorm', die Aufbewahrungskombination. Darüber sind so viele Witze gemacht worden, das reicht bis zum Jahr 3004. Mir persönlich sind im Übrigen die Möbel unangenehmer, die heißen wie zu Recht verdrängte Exfreund ('Ingo', Esstisch, Seite 177) oder wie halbkriminelle Nachbarinnen. (Keine Namen! Aber werfen Sie mal einen Blick auf den Topflappen auf Seite 293 ...)

Heute zeigt uns der Ikea-Katalog die bescheiden gewordenen Sehnsüchte der Welt. Er sieht billig aus, okay, von mir aus preiswert. Nichts ist beeindruckend, nichts ist besonders schön, und außer dem Ture-Hocker für neun Euro ist auch nichts wirklich hässlich. Nichts ist besser, als man es sich für sich selbst vorstellen kann. Sogar das Kind auf dem Titelbild könnte selbst gezeugt sein. "Das kannst du auch", scheint der neue Ikea-Katalog kumpelhaft jedem Kunden von Großburgwedel bis Malaysia zuzuraunen. In Malaysia übrigens - die folgenden Information gehört zur Kategorie "Nur damit Sie wissen, dass ich das weiß" - werden die Ikea-Kataloge wegen der hohen Luftfeuchtigkeit noch mal in Folie eingeschweißt.

Anders als Modeschauen von Gucci und Kochbücher von Paul Bocuse verführen Ikea-Kataloge nicht zum Träumen vom Unerreichbaren. Diese Möbel aus Schweden sind so real, so erschwinglich, so vernünftig. Wie Baumwollunterhosen. Unsexy, aber alltagstauglicher als Seiden-Strings, die nicht mal eine lauwarme Handwäsche überleben. Was Unox Heiße Tasse unter den Suppen ist, ist Billy unter den Regalen. Günstig und selbst gemacht. Naja, irgendwie selbst gemacht. Man kann nicht viel falsch machen, aber sie hauen auch keinen Gast vom Hocker. Vielleicht vom 'Oddvar Hocker', Seite 180? Har, har, har. Tschuldigung, hab mich hinreißen lassen.

Heute Nacht werde ich den Ikea-Ktalog zurückbringen. Irgenwie aufs Seltsamste beruhigt. Denn auf der letzten Seite wurde mir klar, dass im Grunde alles so bleiben darf, wie es ist. Die Sofas sind zwar tiefer geworden und die Menschenmenge auf ihnen dichter. Aber der 'Tatort' hat nach wie vor dieselbe Angangsmelodie und bei Ikea gibt's noch Köttbullar. Alles ist gut. Und Verbrechen lohnt sich nicht.

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Ildikó von Kürthy

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