Flexibel im Job Schöne neue Arbeitswelt

Von Alexandra Wrann und Christina Stefanescu
Abschied vom Feierabend um 17 Uhr: Deutschlands Arbeitnehmer müssen sich an die Schichtarbeit gewöhnen. stern.de hat sich in Berlin auf die Suche nach den flexiblen Arbeitnehmern von heute gemacht. Drei Betroffene erzählen, wie sie mit den meist extremen Arbeitszeiten umgehen.

Vor Ort am Berliner Hauptbahnhof. Hören Sie wie hier die Geschichte beginnt. Souvenirverkäufer Karl-Heinz Krieckel, 43, arbeitet am Berliner Hauptbahnhof. Mit stern.de spricht er über seine extremen Arbeitszeiten.

Bis vor elf Jahren waren die Läden unter der Woche nach 18:30 Uhr geschlossen, samstags war um 14 Uhr Schluss. Früher war also alles besser. Von wegen. Ein weiterer Blick zurück, um 120 Jahre, offenbart, dass sich die heutigen Ladenöffnungszeiten dem Niveau von damals annähern: Die Geschäfte waren von fünf bis 23 Uhr geöffnet.

Laut Statistik arbeiten die Deutschen 30 Stunden in der Woche

Unsere Ur-Ur-Großeltern arbeiteten mehr als 70 Stunden pro Woche, heute arbeiten die Deutschen durchschnittlich 30 Wochenstunden. Erst 1919 wurde die Sonntagsruhe, 1956 das "Gesetz über den Ladenschluss" in der Bundesrepublik eingeführt.

Die Beschäftigten am Berliner Hauptbahnhof sind längst nicht die Einzigen, die bis spätabends für den Kunden an den Kassen stehen müssen. Auch wenn Bahnhöfe seit der Gesetzeseinführung einen Sonderstatus haben - vor zehn Jahren flankierten gerade mal eine Imbissbude und ein Zeitungskiosk den Weg vom Gleis zum Bus. Heute sind die Bahnhöfe in den großen Städten Abfertigungshalle und Einkaufszentrum in Einem - und das bis spät in die Nacht.

Das, womit sich die 900 Arbeitnehmer am Berliner Hauptbahnhof arrangieren müssen, prophezeien Arbeitsmarktexperten für immer mehr Beschäftigte: Flexibilität. Vor allem für die 9,9 Millionen Angestellten im Handel, der Gastronomie und im Verkehrsbereich gilt: Schicht- und Nachtarbeit ersetzen längst das klassische Modell. Zwei Drittel von ihnen arbeiten außerhalb der "normalen" Arbeitszeiten. Auch bei Versicherungen und Banken muss sich mittlerweile jeder Dritte vom Feierabend um 16 Uhr verabschieden.

Schichtarbeit und Wochenend-Dienste wird zum Regelfall

"56 Prozent aller Arbeitnehmer in Deutschland sind schon heute in wechselnden Schichten, in der Nacht und am Wochenende tätig", sagt Hartmut Seifert, Leiter des Wirtschafts- und sozialwirtschaftlichen Instituts der Hans Böckler Stiftung (WSI). Die Freigabe der Ladenöffnungszeiten in vielen Bundesländern wird diese Quote weiter erhöhen, lautet sein Fazit nach jahrelanger Forschung über den Wandel des Arbeitsmarktes in Deutschland.

Der Hauptgrund für die Forderung nach flexiblen Arbeitnehmern liegt - zumindest für die Chefs - auf der Hand: "Es ist immer wichtiger, den Bedürfnissen des Marktes nachzukommen. Wenn ein Unternehmen florieren will, muss es flexibel reagieren können und sich so Standort und Wettbewerbsvorteile sichern", sagt Kristina Schütt, Referentin für Arbeitsrecht der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände.

Hören Sie hier wie die Geschichte weitergeht - live vom Berliner Hauptbahnhof. Melanie Häßler, 26, ist Verkäuferin in einer Mode-Boutique. Für sie ist die flexible Schichtarbeit kein Problem. Warum, verrät sie im Gespräch mit stern.de-Gespräch.

"Die Flexibilisierung der Arbeitszeit wird auch die Familienfreundlichkeit erhöhen", sagt Bert Rürup, Wirtschaftswissenschaftler und Sachverständiger der Bundesregierung in Wirtschaftsfragen.

Wohin mit den Kindern?

In der Realität aber wird der vermeintliche Vorteil für Familien schnell zum Nachteil: Ämtergänge, Arztbesuche - kein Problem. Aber wer betreut das Kind unter drei Jahren, wenn Mama nachts arbeiten muss? Ohne Papa, Oma, oder Tante sind die Alternativen rar.

Besonders für die 2,1 Millionen Alleinerziehenden in Deutschland wird die von den Arbeitgebern geforderte Flexibilität zum Problem. Kinderbetreuung zu jeder Tages- und Nachtzeit ist selten, die wenigen Plätze, die mit einem Kita-Gutschein bezahlt werden können, sind umkämpft, private 24-Stunden-Ersatzmütter teuer.

Hier hören Sie wie stern.de die Apothekerin Damaris Nimz, 44, treffen. Sie macht die Nachtschicht in der Hauptbahnhof-Apotheke. Nachtarbeit und Familie - wie passt das zusammen, Frau Nimz?

Nicht ohne Grund überlegen die Gewerkschaften, wie sich Familie und Beruf besser vereinbaren lassen. Eine von vielen Ideen: Kinderbetreuung garantieren, schon in den Tarifverträgen. So kann die Stresssituation der Arbeitnehmer in Sachen Familie aufgelöst werden.

"Ansonsten ist eine Ausweitung der Dienstleistungen und Maschinenlaufzeiten in den Betrieben nicht möglich", sagt Reinhard Dombre, Experte für Tarifpolitik beim Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB). "Die Betreuungsangebote müssen an die Arbeitszeiten der Eltern angepasst werden." Dafür müssten Politik und Wirtschaft die Bedingungen schaffen.

Sollten die Gewerkschaften mit ihren Forderungen wenig Erfolg haben, wird sich verstärken, was jetzt schon Praxis ist. In den Geschäften im Berliner Hauptbahnhof sind kinderlose Frauen im Vorteil. "Weil wir hier extreme Arbeitszeiten haben, habe ich in erster Linie Frauen ohne Kinder eingestellt", sagt Ina Goepel, Vertriebsmanagerin bei der Friseurkette "Essanelle".

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