Carlsen Verlag Harry und die Büchermuggles

Der Hype um den jungen Zauberer ist für den kleinen Carlsen Verlag ein echter Glücksfall - und für seine Mitarbeiter ist das Erscheinen des nächsten Bandes wie drei Monate "Quidditch" ohne Pause

Alle warten. Ulrike Schuldes auf den Übersetzer. Herr Matthiesen auf die Druckvorlagen. Mona auf Band fünf. Das Mädchen hat dem Carlsen Verlag in Hamburg einen Brief geschrieben. "Bitte bestellen Sie Frau Rowling, dass sie bald mit Harry Potter fertig werden soll. Schönen Gruß. Mona." Joanne K. Rowling ist fertig geworden - nicht ohne Schaffenskrise. Zwischendurch rief sie ihren Verleger an: "Ich zahl dir den Vorschuss zurück." Der Mann bekam fast einen Herzinfarkt. Aber dann hat die Bestseller-Autorin es doch noch geschafft: Am 21. Juni erschien in England 'Harry Potter and the Order of the Phoenix'. Seit dem 21. Juni leben Ulrike Schuldes und Klaus Fritz im Ausnahmezustand: Gerade mal 13 Wochen haben die beiden Zeit für die deutsche Fassung von "HP5". Er übersetzt, sie lektoriert: zwischen 85 und 100 Seiten pro Woche. Ein mörderisches Pensum, aber Ende September muss Herr Matthiesen die Druckvorlagen bekommen, damit die deutsche Startauflage von 1,6 Millionen Bänden pünktlich zum 8. November in die Buchläden kommt und Mona endlich in ihr geliebtes Potter-Universum eintauchen kann.

"Das erste Kinderbuch, das Kinder nicht mehr heben können"

Um das zu schaffen, hat sich Übersetzer Klaus Fritz komplett aus dieser Welt zurückgezogen. Wo genau er steckt, wissen nur seine Freunde und der Carlsen Verlag. Interviews darf, kann und will er nicht geben. Einmal pro Woche schickt er eine Ladung Seiten per E-Mail an Ulrike Schuldes. Verschlüsselt. Man weiß ja nie, wozu die Fangemeinde im Stande ist. Juli, August, September - es sind die heißesten Wochen seit Menschengedenken, und Ulrike Schuldes arbeitet oft bis um zehn Uhr abends und am Wochenende sowieso. "Potter ist ein Kinderbuch, das heißt, der Satzbau ist nicht zu kompliziert, aber die vielen Sprachspiele, Namen und Verweise auf vorherige oder kommende Bände machen das Buch komplex", sagt die Kinder- und Jugendbuchlektorin.

Wie übersetzt man "We might as well be hanged for a dragon as an egg"? Definitiv keine englische Redewendung. "Man wird uns sowieso die Hölle heiß machen, ob wir jetzt 'nen Drachen loslassen oder ein Ei klauen", wird es in der deutschen Ausgabe heißen, die 1024 Seiten dick sein wird, ein Drittel länger als das englische Original. 1024 Seiten! "Das erste Kinderbuch, das Kinder nicht mehr heben können", sagt Ulrike Schuldes und lacht. Ungläubig. Amüsiert. Kopfschüttelnd.

Potter ist ein Phänomen

Wer in diesem Sommer mit den rund 80 Mitarbeitern des Carlsen Verlags spricht, hört dieses Lachen häufiger. Es ist der einzige, leicht hysterische Kommentar gestandener Verlagsleute zu einem Phänomen, für das das Wort Wahnsinn viel zu schwach ist: Weltweit wurden seit 1997 mehr als 200 Millionen Harry-Potter-Bände verkauft, davon allein im deutschsprachigen Raum 15,5 Millionen. Hält der Erfolg an, wird Potter noch die Bibel überholen. "Ich bin seit 40 Jahren im Geschäft, aber so was hab ich noch nie erlebt", sagt Hartmut Zierau, Herstellungsleiter des Verlags, der aussieht, als könnte ihn nichts, aber auch gar nichts auf der Welt erschüttern. Außer Potter.

Neulich erst musste er am Telefon Herrn Hülse beruhigen. Der produziert das Kapitalbändchen für die Potter-Bücher - ein farbiges, gewebtes Zierbändchen, das den Buchrücken oben und unten abschließt. Ob sie die Farbe schon wüssten, fragte Herr Hülse alarmiert, er müsse Garn bestellen und habe keine Lust, wieder so viele Überstunden zu machen wie beim letzten Mal. "Sie müssen sich das mal vorstellen", sagt Zierau, "der neue Potter-Band hat eine Buchblockstärke von sechs Zentimetern, wir brauchen also zwölf Zentimeter pro Band, die Startauflage liegt bei 1,6 Millionen ...", Zierau wirft den Taschenrechner an, "... macht 192 Kilometer Kapitalbändchen, das reicht von Hamburg bis nach Hannover, ach was, bis nach Hildesheim ..." Zierau lacht. Ungläubig. Amüsiert. Kopfschüttelnd.

Ehemaliger Verlagsheld Petzi mühelos übertrumpft

Der Carlsen Verlag hat seinen Sitz in einem charmanten Backsteingebäude in Hamburg-Ottensen, umgeben von so bodenständigen Nachbarn wie 'Wilhelm Rixen Maschinenbau' und der Fischfabrik Friedrichs. Wer die drei Stufen zum Foyer des Verlags raufgeht, nimmt nicht als Erstes Harry Potter wahr, sondern Petzi, Seebär und Pingo, die ersten Verkaufsschlager des Hauses. 1953 gründete der Däne Per Carlsen einen Verlag in Hamburg, um seine Petzi-Geschichten auf den deutschen Markt zu bringen. Und ähnlich wie Harry Potter jahrelang nicht ahnte, dass in ihm ein Zauberer steckt, der gegen den finsteren Lord Voldemort kämpfen sollte, deutete auch bei Carlsen nichts darauf hin, dass man jemals etwas anderes sein würde als ein kuscheliger, kleiner Verlag mit 50 Mitarbeitern.

Carlsen brachte ambitionierte Kinder- und Jugendbücher mit den üblichen Startauflagen von 4000 bis 5000 auf den Markt, außerdem Comics wie 'Tim und Struppi' und Pixi-Bücher: ein zehn mal zehn Zentimeter großes, patentgeschütztes Buchformat, das schon Zweijährige prima mit ihren Patschehändchen greifen können. "Quengelware, die nicht dick macht", sagt Geschäftsführer Klaus Kämpfe-Burghardt. Beim Buchhandel hatte Carlsen das Image eines Kaufhaus-Verlages, der Massenware produziert. Mitte der neunziger Jahre begann das Unternehmen, das seit 1980 zum schwedischen Medienkonzern Bonnier gehört, in die roten Zahlen zu rutschen.

Es kann gut sein, den Agenten zu kennen

Dienstag. Recherchetag für Ulrike Schuldes. Bewaffnet mit einer CD-Rom, auf der alle vier Potter-Bände gespeichert sind, klärt sie lästige Übersetzungsdetails. Hatte Klaus Fritz "prefect badge" in früheren Bänden als "Vertrauensschülermedaille", "-abzeichen" oder "-sticker" übersetzt? Die Kollegen können der Lektorin bei ihrer einsamen Arbeit zugucken, das helle Büro von Ulrike Schuldes ist zum Gang hin komplett verglast. Gesellschaftlicher Höhepunkt ihres Tages wird heute das Treffen der "Potter-Runde" sein, das drei Glastüren weiter im Büro von Geschäftsführer Klaus Humann stattfindet. Es war Humann, ein Lockenkopf mit potterartiger Brille, der den Coup gelandet hat. Ach, und er erzählt sie immer wieder gern, diese herrliche Geschichte: Wie er 1996 ein Manuskript zugeschickt bekam, dessen Inhalt und spleeniger Humor ihm gefielen. Dass ein anderer deutscher Verlag das Buch ablehnte - zu dick. Sechs weitere Verlage waren interessiert. Humann erhielt den Zuschlag, obwohl er nicht das meiste Geld bot. "Vielleicht, weil ich den Agenten von Frau Rowling persönlich kannte", sagt er. Und strahlt.

Das Drehbuch für den 8. November wird geschrieben

Sechs Leute haben sich an diesem Dienstagmorgen in seinem Büro versammelt, vor sich Kaffeetassen, hinter sich Billy-Regale, in denen gut sortiert eine kleine Auswahl der rund 2100 Verlagstitel steht. Die "Potter-Runde" schreibt das Drehbuch für den 8. November. Na ja, sie versucht es zumindest. Noch läuft alles in geordneten Bahnen: Tausende Tonnen Papier sind gekauft, drei Druckereien gebucht, und die Marketing-Maschine ist angesprungen: Schon am 25. Oktober wird das erste Kapitel von "HP5" in den Obdachlosenzeitungen der Republik erscheinen. Eine gute Tat. Und eine gute Werbung. Die Nachfrage nach den ersten vier Bänden zieht wieder leicht an. "Vielleicht haben die Leute ihre Bände verloren und kaufen neue", sagt Humann. Und dann hört man es wieder - dieses Lachen.

Vor drei Jahren ist es ihnen fast vergangen. Auch damals wartete die Fangemeinde fiebrig. Auf Band vier. Als das Buch in England erschien, stieg in Deutschland die Nachfrage nach den Bänden eins bis drei (von denen schon fast zwei Millionen verkauft waren) derartig, dass sich die Lager über Nacht leerten und selbst Hersteller Zierau ins Schwitzen kam: "Ich bin kreuz und quer durch Europa gereist, von Finnland bis nach Spanien, um noch Druckereien und Papier zu finden."

80.000 Potter-Bände hingen an der Grenze fest

Dinge geschahen, wie sie sich Joanne K. Rowling nicht absurder hätte ausdenken können: Eine tschechische Druckerei sollte ganz Österreich mit Band vier beliefern. Dummerweise ging gerade das Atomkraftwerk Temelin ans Netz, und die österreichischen Grünen blockierten aus Protest die Grenzübergänge an den Autobahnen. 80.000 Potter-Bände standen auf zig Lastwagen an der Grenze. Ein Desaster. Nach hektischen Verhandlungen mit den Grünen orderte der Verlag die Lkw zurück zum nächsten tschechischen Bahnhof, wo die Paletten auf Waggons verladen wurden. So behielten die Grünen ihren Protest. Und Österreich kriegte seinen Potter. In Hamburg schoben die Carlsen-Leute nur noch Überstunden. Ein Masseur wurde gebucht, aber so viel Aufregung kann man gar nicht wegmassieren. Der deutsche Optikerverband beschwerte sich über das Buchcover - die Brille von Harry sitze zu weit vorn auf der Nase. Guido Westerwelle ging mit Band vier unterm Arm in den Big-Brother-Container. Der Umsatz des Verlags stieg damals von 15 auf 80 Millionen Euro. Kann ein Bestseller gefährlich werden? "Na ja", sagt Kämpfe-Burghardt, "uns war von Anfang an bewusst, wenn wir den Verlag hinter Potter nur eine Sekunde vergessen, wird sich das grausamst rächen."

Den Verlag dahinter nicht vergessen

Sie haben den Verlag nicht vergessen und sich nur ganz kurz am Erfolg berauscht, was bei Bücherleuten dann so aussieht: ein Ausflug nach Helgoland, ein Ausflug auf den Darß, Prämien. Dann war der Freudentaumel auch schon wieder vorbei. Der Masseur wurde abgeschafft, stattdessen bekam jeder Mitarbeiter den Ratgeber "Jetzt sitzen Sie richtig".

Innerhalb von drei Jahren wurden 30 neue Leute eingestellt - aber nicht für Potter, sondern für die Comic- und Pixi-Sparte. Beide sind in den letzten Jahren kräftig gewachsen, vor allem dank der japanischen Manga-Comics. Mangas werden von hinten nach vorne gelesen; Erwachsene verstehen das nicht und finden Mangas ziemlich blöd. Genau das macht die Fantasy-, Sex- und Science-Fiction-Storys so attraktiv für 10- bis 16-Jährige. Auch ohne Potter hat sich der Umsatz zwischen 1998 und 2003 verdoppelt. Trotzdem: Wird man nicht eifersüchtig auf den übermächtigen Star des Hauses? "Solange Potter nicht tagelang die Rampen in der Auslieferung blockiert, freue ich mich über ihn", knurrt Joachim Kaps, Leiter von Carlsen Comics. Und die Lektorin Cordula Thörner sagt: "Der Carlsen Verlag ist auch so schon wer. Potter ist für uns das Sahnehäuben obendrauf."

192 Kilometer goldfarbenes Kapitalbändchen

28,50 Euro wird das Buch kosten. Wie viel bei Carlsen, genauer gesagt beim schwedischen Bonnier-Konzern, hängen bleibt, ist das Geheimnis der Geschäftsführung. Über Geld zu reden gilt unter Büchermenschen als ziemlich unfein. Humann verrät immerhin so viel: "Es sind Renditen, die Verlage glücklich machen." Ein Buch kostet in der Herstellung nur wenige Euro, dann gehen Händlerrabatt, Mehrwertsteuer und vor allem das Autorinnen-Honorar ab. Auch das will Humann nicht preisgeben. Der englische Verlag Bloomsbury gibt laut Presseberichten knapp zwölf Prozent an Rowling ab. Deren Vermögen wird auf 400 Millionen Euro geschätzt. Damit wäre sie reicher als die Queen. Und der Carlsen Verlag hat so viel Geld verdient, dass er shoppen gehen durfte und sich einen eigenen Taschenbuchverlag gönnte. Noch schreibt der keine schwarzen Zahlen. "Aber das Schöne an Potter ist, dass wir uns solche Investitionen leisten können", sagt Kämpfe-Burghardt. Momentan hat er allerdings ganz andere Sorgen: Wie liefert man 1,6 Millionen Bücher pünktlich an 6000 Buchhandlungen? Wie stellt man sicher, dass die Bände für Karstadt, die einen speziellen Barcode aufgedruckt bekommen haben, auch wirklich an Karstadt gehen? Kämpfe-Burghardt steht jetzt häufiger vor einer Deutschlandkarte und steckt kleine Fähnchen hinein. Und mitten in die Planungen für den Erstverkaufstag platzen auch noch die englischen Wirtschaftsprüfer von Frau Rowling und wollen checken, ob der Verlag auch jedes Buch ordentlich verbucht hat. Noch 57 Tage bis zum 8. November. Ulrike Schuldes wartet auf den Übersetzer. Herr Matthiesen auf die Druckvorlagen. Mona auf Band fünf. Nur Herr Hülse muss nicht mehr warten. Seine Maschinen weben 192 Kilometer Kapitalbändchen. Es wird goldfarben sein.

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Doris Schneyink