Mit einem umstrittenen Kompromiss in letzter Minute haben die Tarifparteien im öffentlichen Dienst den ersten Streik seit 1992 abgewendet. Die Gewerkschaften sowie Bund, Länder und Kommunen einigten sich nach 30-stündigen zähen Verhandlungen in Potsdam in der Nacht zum Freitag auf einen neuen Tarifvertrag für die rund drei Millionen Arbeiter und Angestellten. Sie erhalten danach in drei Schritten mehr Geld. Zudem wurde ein Kompromiss für die Anpassung der Osteinkommen an das Westniveau erzielt.
Länder und Kommunen in Aufregung
Vor allem bei Kommunen und Ländern, die sich lange für eine Nullrunde stark gemacht hatten, wurde sofort heftige Kritik laut. Mit Hinweis auf leere Kassen drohen nicht nur in Ostdeutschland einige bereits mit Ausstieg aus der Tarifgemeinschaft der öffentlichen Arbeitgeber. Berlin ist als erstes Bundesland bereits aus der Tarifunion ausgetreten. Die Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst beginnen dort nun am Freitag kommender Woche. Zudem sehen die Kommunen Arbeitsplätze in Gefahr.
Erhöhung zu Beginn für untere Gehaltsgruppen
Die Löhne und Gehälter werden nun rückwirkend zum 1. Januar 2003 um 2,4 Prozent erhöht, allerdings nur für die unteren und mittleren Einkommensgruppen. Für die oberen soll dieser Schritt erst am 1. April folgen. Für den 1. Januar 2004 und den 1. Mai 2004 sind die nächsten Schritte um jeweils ein Prozent vorgesehen. Im März 2003 gibt es zudem eine Einmalzahlung von maximal 185 Euro (West) und 166,50 (Ost), in November 2004 weitere 50 Euro.
Auch bei der Ost-West-Angleichung einigten sich beide Seiten auf zwei Fahrpläne. So sollen die unteren Einkommen 2007 und die oberen Einkommen 2009 vollständig westdeutsches Niveau erreichen. Der erste Angleichungsschritt erfolgt für alle Einkommensgruppen zum 1. Januar 2003 mit einem Prozentpunkt auf dann 91 Prozent, ein Jahr später in einem weiteren Schritt auf 92,5 Prozent West.
Umfangreiche Kompensationen
Um die Belastungen für die öffentlichen Haushalte zu mindern, verständigten sich die Tarifparteien auf umfangreiche Kompensationen. So wurde eine für die deutsche Tariflandschaft erneut ungewöhnlich lange Laufzeit von 27 Monaten bis zum 31. Januar 2005 festgelegt. Außerdem entfällt ein bislang tariflich fixierter arbeitsfreier Tag (AZV). Ferner kann die Auszahlung der Bezüge vom 15. jeden Monats auf das Monatsende verlegt werden. Zudem wird die sonst alle zwei Jahre fällige, automatische Erhöhung der Grundvergütung 2003/04 halbiert. Schließlich müssen künftig auch die ostdeutschen Arbeitnehmer in die Zusatzversorgung einzahlen. Zu guter Letzt haben sich die Tarifparteien eine Reform der Bezahlungsstrukturen im öffentlichen Dienst vorgenommen.
Die Tarifkommissionen der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di und der Tarifunion des Beamtenbundes stimmten noch am Freitag in Potsdam mit großer Mehrheit dem Abschluss zu. Der Tarifkonflikt stand nach wochenlangen Warnstreiks und einer erfolglosen Schlichtung vor einem massiven bundesweiten Arbeitskampf.
Schröder: "Gesunder Kompromiss"
Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) bezeichnete den Abschluss als «gesunden Kompromiss». Angesichts der langen Laufzeit gebe es nun Planungssicherheit. Finanzminister Hans Eichel (SPD) rief vor allem Länder und Gemeinden zu «verstärkten Anstrengungen» bei der Konsolidierung der Haushalte auf. Wegen des hohen Personalstands sei der Abschluss für Länder und Kommunen schwieriger als für den Bund. Mit dem Abschluss kommen auf Bund, Länder und Gemeinden in diesem Jahr Kosten von 2,5 Milliarden Euro zu. Im nächsten Jahr beliefen sich diese Ausgaben auf 2,9 Milliarden Euro, sagte der Sprecher des Bundesfinanzministeriums, Jörg Müller.
Die Zustimmung vor allem der Länder und Kommunen war nur mit knapper Mehrheit kurz vor Mitternacht erreicht worden. Aber auch an der Gewerkschaftsbasis war vor allem die lange Laufzeit umstritten. ver.di und die Tarifunion des Beamtenbundes hatten ursprünglich mehr als drei Prozent gefordert. ver.di-Chef Frank Bsirske sagte, man sei «sehr dicht» an die Kernforderung gekommen.
CDU-Chefin Angela sagte im ZDF-Morgenmagazin, die Einigung sei mit einem hohen Preis erzielt worden. Ähnlich argumentierte FDP-Chef Guido Westerwelle: «Die öffentliche Hand hat der Erpressung der Gewerkschaft ver.di nachgegeben... Der Abschluss der wirtschaftlichen Unvernunft wird erneut tausende von Arbeitsplätzen kosten und den dringend notwendigen Aufschwung hinauszögern.»
Die kommunalen Spitzenverbände halten Soforthilfe des Bundes für dringend erforderlich. Die Verschuldung der Kommunen, die derzeit 96 Milliarden Euro betrage, werde weiter steigen, sagte Gerd Landsberg vom Deutschen Städte- und Gemeindebund. Die kommunalen Arbeitgeber hätten am Ende vor allem zugestimmt, um einen Streik zu vermeiden, sagte Städtetag-Hauptgeschäftsführer Stephan Articus. «Der Tarifabschluss wird leider zu weiteren Sparmaßnahmen, etwa bei den kommunalen Investitionen oder den Dienstleistungen für die Bürgerinnen und Bürger führen.»