Auf den ersten Blick scheint es, als hätte Franz Müntefering persönlich das Drehbuch zu dieser Geschichte geschrieben. Der Titel: Heuschrecken in Deutschland, Folge 1025. Die Story: Böser Finanzinvestor steigt in unschuldiges Unternehmen ein, schmeißt 150 Leute raus und verlagert die Produktion ins Ausland. So weit, so vertraut. Doch die Geschichte hat eine Pointe: Das abgewickelte Werk liegt im Niedriglohnland Polen. Und die neuen Jobs entstehen im teuren Deutschland. Genauer gesagt, in Hessisch Lichtenau bei Kassel.
In dem idyllischen Städtchen,
an der deutschen Märchenstraße gelegen, darf sich Michael Staufenberg, 32, jetzt zu den Globalisierungsgewinnern zählen. Ein Malochertyp mit Blaumann, Stoppelbart und ölverschmierten Händen. Fast zwölf Monate lang war er arbeitslos. Und das im "nordhessischen Jammertal", wie die Einwohner die Gegend bei Kassel mit einigem Galgenhumor nennen. Die Arbeitslosigkeit in dem ehemaligen Zonenrandgebiet liegt bei 13 Prozent, in Kassel selbst bei 20 Prozent.
Bei der Firma Format Tresorbau, dem vermeintlichen Heuschreckenopfer, hatte Staufenberg trotzdem Glück. Der gelernte Werkzeugmacher steht nun in einer großen Halle, vor ihm greift sich ein Roboter schwere Stahlplatten und reicht sie ruckartig an einen Schweißroboter weiter. Staufenberg bedient die nagelneue Fertigungsstraße. Gerade mal 35 Minuten brauchen die orangefarbenen Kolosse, um aus den Stahlplatten Tresorrohlinge zu schweißen.
11,25 Euro verdient Staufenberg
pro Stunde. Nicht besonders viel. Aber viel mehr, als die Kollegen in Polen verdient haben. Doch durch die Automatisierung ist seine Arbeit so produktiv geworden, dass der Lohn mit dem im Osten konkurrieren kann. In Polen braucht ein Schweißer statt 35 Minuten für einen Rohling acht Stunden. Die manuelle Fertigung eines einzigen Tresors, inklusive seinem Herzstück, dem Schließ- und Riegelwerk, kann bis zu zwei Wochen dauern. Die Roboter verkürzen die Produktion auf zwei Tage. Format ist der erste Tresorbauer, der sich an die Automatisierung gewagt hat.
"Tresore herzustellen war bisher reine Handarbeit", sagt Vertriebsleiter Udo Pawelka. Und ganz wird sich das auch nicht ändern: Für die automatisierte Fertigung kommen nur Tresore von Geldautomaten infrage, weil die relativ stark standardisiert sind. Das betrifft knapp die Hälfte der 80.000 Stahlschränke, die Format pro Jahr herstellt. Alles andere sind aufwendige Einzelstücke - für Banken, Juweliere, Ölscheichs, Waffenbesitzer, Kunstsammler oder Pfarrer, die Angst haben, ihre Madonna könnte geklaut werden. Diese Tresore werden in Zukunft weiter von Hand gebaut.
So kann Udo Pawelka auch künftig das hören, was er "meine Musik" nennt: Schleifmaschinen und Schweißgeräte machen in der archaisch anmutenden Halle einen mörderischen Krach. Funken sprühen. Die rund 30 Arbeiter haben schmutzige Gesichter.
Ein Stockwerk höher
hat die "Heuschrecke" ihr Büro. Silbergraue Haare, Seitenscheitel, Brille, dunkler Anzug. Michael Keinert ist Finanzinvestor bei der DIC Investment in Düsseldorf. Als die DIC Anfang 2003 Format übernahm, wurde Keinert Geschäftsführer. "Es war brutal hart", sagt er. Das Unternehmen stand kurz vor der Pleite, die Mitarbeiter zitterten um ihre Jobs - andere deutsche Tresorbauer hatten längst ihre komplette Produktion ins billige Osteuropa ausgelagert und hielten nur noch den Vertrieb in Deutschland. Was lag da näher, als diesem Beispiel zu folgen?
Die Heuschrecke wählte einen anderen, ungewöhnlichen Weg: Michael Keinert schloss ein Zulieferwerk in Polen und investierte einen zweistelligen Millionenbetrag in Hessisch Lichtenau. Nicht weil er Mutter Teresa nacheifern möchte, sondern weil er kühl gerechnet hat. Die neuen Roboter senken die Lohnkosten extrem, außerdem fallen die langen Transportwege weg.
"Mein Vorgänger ließ
in Polen Rohlinge fertigen, die mussten wir herfahren, in unsere Montage eingliedern, das rechnet sich nicht immer", sagt Keinert. Es gab Qualitätsprobleme. Und die steigenden Spritpreise, die Mautgebühren und nicht zuletzt Lohnsteigerungen in Polen machten den Standort im Osten unattraktiv. Das alles bewog Keinert, seine Roboter in Hessisch Lichtenau statt in Polen aufzubauen. Er entließ 150 Polen. "Wir haben allen Angebote gemacht, bei einem anderen polnischen Zulieferer von uns zu arbeiten, aber fast niemand hat angenommen", sagt Keinert. So zahlte er Abfindungen.
Jetzt freuen sich die hessischen Arbeiter über ihren sicheren Job und leiden mit den polnischen Kollegen. "Das eigene Hemd sitzt einem natürlich am nächsten", gesteht Günter Bielitzki, 54. Der gelernte Schweißer baut seit 26 Jahren Tresore und gilt als Experte. Natürlich ist er heilfroh, nicht entlassen worden zu sein. "Auf der anderen Seite ist es eine traurige Sache für die Kollegen in Polen. Ich kenn' die ja alle, war oft dort und hab denen gezeigt, wie's geht. Und in Polen ist es doch wie bei uns, die Arbeit ist nicht so dick gesät."
Früher hatten die Format-Mitarbeiter
Angst vor der Globalisierung. "Wenn unser ehemaliger Geschäftsführer nach China flog, um Geschäfte anzubahnen, war das Einzige, was er uns erzählte, dort würden die Leute für 15 Cent die Stunde arbeiten", erinnert sich Bielitzki. Jetzt hat ihn die neue Geschäftsführung selbst nach China geschickt, weil Format dort mit dem größten chinesischen Tresorbauer zusammenarbeiten und den asiatischen Markt mit deutschem Know-how beliefern will. Mit der Schiebelehre hat Bielitzki nachgemessen, was die chinesischen Kollegen nach den Zeichnungen von Format zusammengeschweißt hatten: "Das war alles hundertprozentig."
So ist das mittelständische Unternehmen selbst zum Global Player geworden, profitiert von der internationalen Arbeitsteilung und kauft Vorprodukte bei Zulieferern auf der ganzen Welt ein. "Wir hatten gar nicht genug Leute, die englisch sprachen", erinnert sich Format-Chef Keinert. Die Menschen in Hessisch Lichtenau hätten "sehr regional" gedacht. "Doch um in der Globalisierung zu bestehen, braucht man intelligente Konzepte." Dass er als Heuschrecke nicht so gehandelt hat, wie Müntefering sich das denkt - einfallen, auffressen, weiterziehen -, bedeutet nicht, dass Michael Keinert keinen Ehrgeiz hätte.
Er will mit dem Tresorbauunternehmen Geld verdienen. Ziel ist es, in sieben bis acht Jahren eine angemessene Rendite zu erwirtschaften und dann zu verkaufen. "Aber im Unterschied zu anderen Investoren finanzieren wir das aus eigenen Mitteln", sagt Keinert. Da ist der Druck nicht ganz so groß, sehr schnell wieder verkaufen zu müssen.
Die Menschen in Hessisch Lichtenau können sich über ihre Heuschrecke jedenfalls nicht beschweren. Wenn demnächst die neuen Roboter an sieben Tagen die Woche im Drei-Schicht-Betrieb produzieren, braucht die Firma ungefähr 40 neue Leute, um die Fertigungsstraße zu bedienen, schätzt Keinert. Eine zweite Anlage ist bereits geplant. Das würde noch einmal 60 Arbeitsplätze schaffen.
So hat die Firma Tresor längst ein ganz anderes Problem: Gute Leute sind trotz der hohen Arbeitslosigkeit in Nordhessen gar nicht so einfach zu finden. "Wir haben Heerschaaren von Helfern, gesucht sind aber Spezialisten", gesteht Anne-Christel Töllner, Chefin der Arbeitsagentur Kassel. Gut die Hälfte der Arbeitslosen hätten keine verwertbare Berufsausbildung. Hinzu komme, dass bei vielen das "persönliche Glück so im Zentrum des Lebens" stehe. "Wenn ein Vater mal für einen Job sechs Wochen sein Kind nicht sehen kann, dann muss er gleich in die Selbsthilfegruppe", sagt Töllner.
Der Personalleiter
von Format, Matthias Noll, kennt die Probleme und hat schon einen dicken Packen Anträge vor sich liegen. "Gastarbeitnehmerverfahren. Hinweise zur Vermittlung von Fachkräften aus osteuropäischen Ländern", steht darauf. "Wir arbeiten schon länger mit polnischen Leiharbeitern zusammen, um Spitzen in der Produktion aufzufangen", sagt Noll. Bei vielen liefen die Verträge jetzt aus, und sie müssten zurück nach Polen. "Von denen würden wir gern einige fest einstellen."
Wenn sein Plan klappt, hätte die Geschichte von der Heuschrecke und den Tresorbauern eine ganz besondere Pointe: Neue Jobs in Deutschland senken dann die Arbeitslosenquote in Polen.