Haushaltspolitik Wie die Wirtschaftsweisen die Schuldenbremse reformieren wollen

Die fünf Wirtschaftsweise um (v.l.) Martin Werding, Achim Truger, Ulrike Malmendier, Veronika Grimm und Monika Schnitzer schlagen eine Reform der Schuldenbremse vor
Die fünf Wirtschaftsweise um (v.l.) Martin Werding, Achim Truger, Ulrike Malmendier, Veronika Grimm und Monika Schnitzer schlagen eine Reform der Schuldenbremse vor
© dts Nachrichtenagentur / Imago Images
Mit dem geplatzten Haushalt startete Ende 2023 eine Diskussion über den Sinn der Schuldenbremse. Jetzt legen die fünf Wirtschaftssachverständigen einen Reformvorschlag vor – mit drei konkreten Punkten.

Die Schuldenbremse ist reformbedürftig – meint nicht irgendwer, sondern der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, kurz: die Wirtschaftsweisen. Der fünfköpfige Expertenrat schlägt eine Überarbeitung der im Grundgesetz verankerten Klausel an drei Stellen vor. 

1. Länger Schulden machen dürfen

Konkret plädiert das Gremium beispielsweise für die Einführung einer "Übergangsphase für die Jahre unmittelbar nach Anwendung der Ausnahmeklausel der Schuldenbremse". Klingt kompliziert, heißt aber lediglich, dass sich die Bundesregierung für die Finanzierung externer Schocks mehr Zeit einräumen darf. Ein Beispiel hierfür wäre etwa die Coronakrise. Sie erforderte massive staatliche Ausgaben, wodurch die Ausnahmeklausel der Schuldenbremse aktiviert wurde. 

Bisher müsste die Schuldenbremse mehr oder weniger sofort wieder greifen, sobald die Sondersituation beendet ist. Die Wirtschaftsweisen schlagen vor, diesen Zeitraum zu strecken, um einer Art kaltem Entzug zu entgehen. In dieser Zeit dürfte das zulässige strukturelle Defizit zwar über der normalen Regelgrenze liegen, die Schulden müssten aber stetig reduziert werden.

2. Variablere Schuldengrenze

Als zweiter Punkt soll die Regelgrenze variabler gestaltet werden. Aktuell dürfen maximal 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukt (BIP) in Form neuer Kredite jährlich neu aufgenommen werden. Die Ökonomen schlagen vor, diesen Wert stärker in Abhängigkeit von der Schuldenstandsquote zu staffeln.

In Zeiten niedriger Schuldenquoten könnte die Regelgrenze damit höher liegen. Bei einer Schuldenstandsquote unter 60 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) soll die Grenze für das strukturelle Defizit bei einem Prozent des BIP liegen dürfen, bei Werten zwischen 60 und 90 Prozent bei 0,5 Prozent. Erst danach, bei über 90 Prozent Staatsschuldenquote, würde die alte Grenze von 0,35 Prozent greifen. Damit würde sich Deutschland auch deutlich näher an den europäischen Regeln orientieren, die unterhalb der 60-Prozent-Grenze strukturelle Defizite von 1 Prozent des BIP ermöglichen. Perspektivisch sollen dies sogar 1,5 Prozent sein.

3. Methodik verbessern

Als dritten Vorschlag will das Gremium die Konjunkturbereinigung methodisch verbessern. Aktuell sei sie revisionsanfällig, was eine konjunkturgerechtere Finanzpolitik erschwert. Wie es der Wirtschaft geht, bemisst die Bundesregierung derzeit mit der sogenannten Produktionslücke. Damit wird die prozentuale Abweichung zwischen dem BIP und dem Produktionspotenzial definiert. 

Das Problem dabei ist das Produktionspotenzial, das als "Produktionsvolumen bei Normalauslastung" definiert ist. Diese Größe lässt sich nicht beobachten, sondern nur in Echtzeit schätzen. Das ist allerdings extrem schwankungsanfällig. Welcher Ökonom weiß schon von seinem Büro aus, wie viele Autos VW in diesem Moment produzieren kann. Das lässt sich erst im Nachgang eines Haushaltsjahres feststellen.

In der Konsequenz führen diese Fehlschätzungen zu Revisionen. Damit wird entweder zu viel Verschuldung zugelassen oder zu wenig, "mit unerwünschten Auswirkungen auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage", schreiben die Wirtschaftssachverständigen in ihrer Stellungnahme. Zwar ließen sich Revisionen wohl nicht komplett vermeiden. Aber, so schreiben die Experten, "moderne ökonometrische Schätzverfahren könnten Revisionen des Produktionspotenzials und der Produktionslücke reduzieren". 

Eine Idee wäre dabei eine "Fehlerkorrekturkomponente". Einfach gesagt würde das dazu führen, dass Fehlschätzungen und Revisionen in einzelnen Jahren nicht so stark ins Gewicht fallen, sondern sich im Zeitverlauf gegenseitig ausgleichen können. Das reduziert den Handlungsdruck für die Haushaltspolitiker. Dies soll aber explizit nicht den "Verschuldungsspielraum strukturell ausweiten, sondern zum Zeitpunkt der Haushaltsaufstellung den konjunkturell notwendigen Finanzbedarf besser abbilden", sagte das Ratsmitglied Martin Werding.

Dennoch zielt der Vorschlag eindeutig in eine Richtung: "Die von uns vorgeschlagene Anpassung der Schuldenbremse erhöht die Flexibilität der Fiskalpolitik", sagte die Ratsvorsitzende Monika Schnitzer. "Sie ermöglicht, zukunftsgerichtete öffentliche Ausgaben zu tätigen und den Übergang nach einer Notlage zu regeln, ohne die Tragfähigkeit der Staatsfinanzen auszuhöhlen."

Überwiegend Lob aus der Ökonomenszene

Der Vorschlag erfährt in der Ökonomenszene überwiegend Lob. Der in den USA lehrende Ökonom Rüdiger Bachmann erklärte auf X, dass der Vorschlag in die richtige Richtung gehe. Er werde sehr bald einen ähnlichen Entwurf veröffentlichen. 

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Auch der Düsseldorfer Wettbewerbsökonom Jens Südekum und Marcel Fratzscher, Präsident des  Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), halten die Vorschläge grundsätzlich für sinnvoll. Beide stehen sich wirtschaftspolitisch zwar selten nahe, aber sie haben einen Kritikpunkt, der in dieselbe Richtung zielt: Südekum und Fratzscher vermissen die Zweckbindung. Schulden seien nicht gleich Schulden, meinen sie. Würden etwa neue Schulden für Investitionen aufgenommen, sei das besser, als wenn damit Staatskonsum finanziert werde. Diese Unterscheidung nehme der Vorschlag nicht ausreichend vor.

Dieser Artikel erschien zuerst im Wirtschaftsmagazin "Capital", das wie der stern Teil von RTL Deutschland ist.

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