"Icke muss vor Jericht" Wenn Räuber Schmerzensgeld verlangen

  • von Uta Eisenhardt
Eine Pizzeria wird überfallen. Dem Inhaber und seinen Söhnen gelingt es, den Räuber zu schnappen. Doch vor dem Berliner Amtsgericht findet ein Rollentausch statt: Die Opfer sitzen auf der Anklagebank, und der Räuber fordert Schmerzensgeld.

Kurz nach Mitternacht rannte ein Mann mit einer Kasse auf die unbeleuchtete Straße. Er kam nicht weit, nach zwanzig Metern hatten ihn die Söhne des Pizzeria-Inhabers eingeholt und brachten ihn zu Fall. Die Kasse fiel zu Boden und schlitterte über das regennasse Pflaster. Die Brüder, später noch deren Vater, rangen mit dem Räuber, der sich unter ihnen wand.

Als die Polizei eintraf, sah der Mann schlimm aus: Blut und Tomatenmark hatten ihn rot gefärbt, Gesicht, Brust und Ellenbogen waren geschwollen, später diagnostizierte der Arzt ein Schädel-Hirn-Trauma ersten Grades. Deshalb schlüpft der Räuber in die Rolle des Opfers, wenn sich der Pizzeria-Inhaber und dessen Söhne wegen gefährlicher Körperverletzung verantworten müssen. Außerdem verlangt er 2500 Euro Schmerzensgeld.

Auch in jener Nacht im September 2008 forderte er Geld. Inhaber Khaled Al-Wazir* bot ihm zehn Euro und eine Packung Zigaretten an. Doch der Maskierte verlangte die komplette Kasse. Mit der Gaspistole dirigierte er den Vater und dessen Söhne Rabih* (26) und Ghassan* (25) in die Küche. Als der Inhaber nach einer Bratpfanne griff, schoss der Räuber.

Gaspistole gegen Bratpfanne

"Ich habe den Angriff mit der Waffe erwidert, um mein leibliches Wohl zu sichern", sagt Thomas Semmler* mit gestelzten Worten, die eher Polizisten vor Gericht benutzen. Der 22-Jährige ist ein hübscher, schlanker Blonder mit gebräuntem Gesicht und blauen Augen. Es fällt schwer, die Tat mit ihm in Verbindung zu bringen.

Nach dem ersten Schuss, so der Pizzeria-Betreiber, prügelte er mit der Bratpfanne auf den Eindringling: "Ich habe mich gewehrt, er hat sehr oft auf mich geschossen, um mir Angst einzujagen", sagt der untersetzte 46-jährige Palästinenser. "Ich nahm Käse, Tomaten und bewarf ihn mit allem, was ich hatte." Seine Söhne verließen unterdessen den Laden durch den Hinterausgang - auf Geheiß ihres Vaters, der sich für sie opfern wollte.

Immer wieder schoss der Räuber auf Khaled Al-Wazir, dann zerrte er ewig an den Kabeln der Kasse. Nun floh auch der Inhaber aus dem gasgeschwängerten Raum. Er schloss die Ladentür und sah wie der Drogenberauschte mit einem Ruck die Kabel trennte. Dabei muss die Kassenlade heraus gefallen sein. "Später fanden wir das Geld auf dem Boden", sagt der Vater.

Gemüse an den Kopf geworfen

Der Eingesperrte schlug auf die gläserne Ladentür, bis diese zerbrach. Durch die Öffnung warf ihm einer der Brüder den Reklame-Aufsteller an den Kopf, gefolgt von einer Ladung Gemüse. Der Räuber schoss nach draußen, dann klemmte er sich die leere Kasse unter den Arm und rannte die Straße hinunter, bis die Brüder ihn von hinten packten.

"Vier Leute haben mich an Armen und Beinen festgehalten", sagt Thomas Semmler dem Gericht. "Sie prügelten mit einer Eisenstange wild auf mich ein." Wer schlug und trat, weiß er nicht. Erst die Polizei habe sein Martyrium beendet. Zwei Monate verbrachte er im Krankenhaus. Bei der polizeilichen Befragung habe er "irgendwelchen Mist erzählt": Er gab an, irrtümlich für den Täter gehalten worden zu sein.

Inzwischen ist die Frage seiner Schuld geklärt. Ein Jahr verbrachte er wegen "versuchter schwerer räuberischer Erpressung im minderschweren Fall", Sachbeschädigung und Körperverletzung in Haft, die restlichen sechs Monate wurden ihm erlassen. Heute lebt der ehemals obdachlose Drogenabhängige im betreuten Wohnen.

"Aufhören! Der hat genug!"

Die Überfallenen mussten damals ihren verwüsteten Laden schließen und renovieren. Auf ihrer Gegenrechnung stehen 1600 Euro Sachschaden und Umsatzausfall für 13 Tage á 550 Euro. In diesem Prozess geht es aber nur darum, ob sich Thomas Semmler seine Verletzungen bis zu seinem Sturz zuzog oder erst, nachdem er hilflos auf dem Boden lag. Handelten die Al-Wazirs in Notwehr oder prügelten sie einen Wehrlosen?

Das Gericht hört zwei Nachbarn: Der eine sah aus dem zweiten Stock des gegenüberliegenden Hauses den fliegenden Stuhl, den ebenfalls fliegenden Aufsteller und ein langes, dünnes Plastikteil - mit dem sei der Räuber von den Palästinensern verprügelt worden. "Mehrere Nachbarn riefen: ‚Aufhören! Der hat genug!'", sagt der Zeuge. "Ich hab gedacht, da wird einer vor meiner Tür totgeschlagen." Wer von den Angeklagten schlug, weiß er nicht.

Der zweite Zeuge wohnt im Erdgeschoss des Hauses, in dem sich die Pizzeria befindet. Er sah den rennenden Räuber: "Wie kann man nur so blöd sein, 'ne zehn Kilo schwere Kasse mit auf die Flucht zu nehmen?" Drei Meter vor seinem Fenster stürzte der Flüchtende - hinter ein Auto. Nun konnte der Beobachter nur noch die Palästinenser mit der weißen Stange sehen. Die habe der muskulöse Rabih in der Hand gehalten. Der habe von dem Räuber einen Meter entfernt gestanden. "Zu hundert Prozent hat keiner geschlagen", sagt der Zeuge.

Ein Stück aus dem Tollhaus

Die Angeklagten sagen, sie hätten die kunststoffüberzogene grüne Stange aus Metall auf der Straße gegriffen, als sie zusehen mussten, wie der Räuber ihre Ladentür demolierte. Später übergaben sie diese der Polizei. "Wenn wir gewollt hätten, hätten wir ihn umbringen können", sagt der Pizzeria-Inhaber. "Aber es liegt mir fern, ihm zu schaden. Auch er hat Vater und Mutter. Mir würde es reichen, wenn er seine Lektion gelernt hätte." Beim nächsten Überfall allerdings würde er dem Räuber neben der Kasse noch Erfrischungsgetränke reichen, um nicht wieder auf der Anklagebank zu sitzen.

Kurz ist das Plädoyer der Staatsanwältin. Sie hält nur den ersten Zeugen für glaubwürdig. Der andere habe wegen des Autos nichts sehen können und obendrein - das kreidet ihm die Anklägerin besonders an - sei er sogar zu faul gewesen, bei der Polizei auszusagen. Die Staatsanwältin kann nicht sagen, wer was tat. Alle Angeklagten sollen sechs Monate Haft auf Bewährung bekommen. Dem schließt sich Semmlers Anwalt an und erinnert den Richter an das Schmerzensgeld.

Die Verteidiger bezeichnen das Ganze als "Stück aus dem Tollhaus". Die Angeklagten hätten Todesängste ausgestanden, dabei sei Adrenalin sei freigesetzt worden. Möglicherweise habe dies länger gewirkt, als die Gefahr bestand, vielleicht habe man auch einmal zu viel hin gelangt, trägt der Anwalt des Vaters vor. Dies sei nachvollziehbar und rechtfertige höchstens eine Geldstrafe zur Bewährung. Die Anwälte der beiden Brüder fordern Freisprüche.

So entscheidet auch der Richter, was von den Angeklagten mit einem lauten "Dankeschön!" quittiert wird. Er habe den Vortrag der Staatsanwältin als "zu schlank empfunden", sagt der Vorsitzende. "Es gibt keine Kollektivbestrafung. Wir müssen zwar nicht alle, aber wenigstens einzelne Handlungen zuweisen können." Das aber kann niemand, weder die Zeugen, noch der Räuber. Der sei ohnehin kein glaubwürdiger Zeuge - eben weil er Geld von den Angeklagten verlangt habe.

* Namen von der Redaktion geändert

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